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"Armut aktiv bekämpfen" - Interview mit Michael Richter in der Straßenzeitung Drobs

Landesgeschäftsführer Michael Richter im Gespräch

Der Paritätische Gesamtverband präsentierte im Dezember 2013 zum wiederholten Mal einen "Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland". Drobs unterhielt sich darüber mit Michael Richter, dem Landesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Sachsen.

Herr Richter, die Lebensbedingungen sind deutschlandweit durchaus unterschiedlich, wenn man beispielsweise auf die Lebenshaltungskosten schaut. Ist ein armer Mensch in München auch ein armer Mensch in Dresden? Wie aussagefähig sind die vorgelegten Armutsquoten?

Richter: Sie sprechen die schwierige Frage nach der Messbarkeit von Armut an. Hier muss man sich auf eine Grenze verständigen, damit man ein Abbild der aktuellen Situation aufzeigen kann. Bei der Berechnung der „relativen Armutsquoten“ werden - wie mittlerweile in der EU üblich - die Personen in Haushalten gezählt, deren Einkommen bei weniger als 60 Prozent des mittleren „bedarfsgewichteten“ Einkommens (dem Median) in Deutschland liegt.  Ist das der Fall, wird üblicherweise von Armutsnähe oder Armutsgefährdung gesprochen. 2012 lag die so errechnete Armutsgefährdungsschwelle für einen Singlehaushalt bei 869 Euro. Für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag sie bei 1.826 Euro. Wenn wir uns jetzt in Erinnerung rufen, dass laut Grundgesetz die ‚Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse‘ eines der Ziele der Bundesrepublik ist, sehe ich dieses Vorgehen als sinnvollen Ansatz an. Dabei ist Armut aber immer auch relativ. Sie können vielleicht München und Dresden vergleichen – ebenso den ländlichen Raum untereinander. Tatsache ist aber jedoch, dass sich Armut immer an den Lebenshaltungskosten vor Ort bemisst. In Dresden käme man mit 896 € sicher ein kleines Stück besser über die Runden als in München.

Der Paritätische veröffentlicht seinen Armutsbericht jährlich. Was und wen möchten Sie damit erreichen?

Richter: Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Wohlfahrtsverband, den Blick auf soziale Schieflagen zu richten und auf diese aufmerksam zu machen. Gerade hier in Sachsen wird über das Thema Armut überhaupt nicht gesprochen. Das verwundert, wenn wir sehen, dass fast jeder fünfte Sachse von Armut bedroht ist – und das seit Jahren unverändert. Hinzu kommt, dass der Freistaat selber keine entsprechenden Erhebungen durchführt und die Staatsregierung aktuell keinen Handlungsbedarf sieht. Man will Sachsen scheinbar nur als das Land erfolgreicher Unternehmer und Ingenieure sehen. Das sind wir auch und darauf können wir stolz sein. Allerdings dürfen wir im Stolz darüber nicht rund 20 Prozent unserer Bevölkerung einfach vergessen. Hier setzt der Armutsbericht ein deutliches Zeichen. Es gilt, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und Menschen zu stärken. Davon profitiert der Freistaat langfristig am meisten.

Was müsste man demnach aus Ihrer Sicht tun?

Richter: Es gibt nicht die eine Maßnahme, mit der wir Armut einfach verschwinden lassen können. Zumal Armut - insbesondere wenn Sie schon länger andauert - leider oft mit Begleitproblemen daherkommt, wie beispielsweise mit Sucht oder seelischen Erkrankungen. Ich denke, es sind vier Dinge notwendig, um Armut erfolgreich zu bekämpfen. Rein von der Einkommensseite betrachtet, ist ein vernünftiges Lohnniveau erforderlich. Hier wird es spannend sein, wie sich die Frage des Mindestlohnes entwickelt. Als Zweites müssen wir Menschen wieder Perspektiven geben. Wer längere Zeit aus dem Erwerbsleben raus ist, fällt meist in ein Motivationsloch und verliert den Anschluss. Hier gilt es, Selbstvertrauen und Wertschätzung zu vermitteln. Anschließend kann dann eine Qualifizierung ansetzen. Als Drittes sehe ich die Notwendigkeit einer funktionierenden Infrastruktur von Beratungs- und Hilfsangeboten. Diese Angebote helfen und unterstützen in den jeweiligen Lebenslagen. Und noch wichtiger ist, dass sie präventiv, also vorbeugend, wirken können. Dadurch kann verhindert werden, dass manche Problemlagen überhaupt erst entstehen. Und viertens: Bildung ist ein ganz wichtiger Schlüssel. Allen Menschen den Zugang zu Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen, ist eine der Hauptchancen, Armut von vornherein  zu verhindern.

Der Bericht stimmt nicht gerade optimistisch. Sehen Sie trotzdem Positives?

Richter: In der Tat lädt der Bericht nicht unbedingt zu Freudensprüngen ein. Was ich besonders erschreckend finde, ist die Tatsache, dass sich die Armutsentwicklung von der Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt hat. Obwohl wir Wachstum verzeichnen, sinkt die Anzahl armer Menschen nicht. Aber Sie hatten mich nach Positivem gefragt. Mit Blick auf Sachsen kann man es als erfreulich bewerten, dass die Armutsquote nicht gestiegen ist. Diese Bewertung relativiert sich jedoch ganz schnell, wenn wir sehen, dass sich der Wert seit Jahren bei fast 20 Prozent festgefressen hat. Die sächsische Regierung möchte die Wirtschaft und das Unternehmertum stärken. Das ist sehr gut. Dazu muss sie Armut aktiv bekämpfen und die Angebote für Familien und Menschen in Notlagen stärken. Damit können wir viel für Sachsen gewinnen – auch wirtschaftlich. Denn wenn fast 800.000 Sachsen arm sind, bedeutet dies oftmals auch, dass sich diese Menschen nicht oder nur wenig an unserer Gesellschaft beteiligen können. Dort schlummern Potentiale, die es dringend zu wecken gilt. Ein klarer Auftrag an die Politik, denn gute Sozialpolitik ist gleichzeitig gute Wirtschaftspolitik. Davon bin ich überzeugt.

Das Interview erschien in der Ausgabe 02/2014 der Dresdner Straßenzeitung drobs - Web: www.drobs-strassenzeitung.dehttp://www.drobs-strassenzeitung.de