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Soziale Daseinsvorsorge im 21. Jahrhundert – zwischen Staat, freier Wohlfahrtspflege und Privatwirtschaft

Am 19. Oktober lud die Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Soziale Daseinsvorsorge im 21. Jahrhundert – zwischen Staat, freier Wohlfahrtspflege und Privatwirtschaft“ in die Dresdner Dreikönigskirche ein. Moderiert vom Journalisten  Michael Bartsch diskutierten auf dem Podium Prof. Dr. Ralf Evers (Evangelische Hochschule Dresden), Dr. Ulrich Schneider (PARITÄTISCHER Gesamtverband) und Gabriele Hofmann-Hunger (Unternehmerverband Sachsen e.V.). Unter den Gästen waren sowohl Abgeordnete des Sächsischen Landtages und der Landkreise, als auch VertreterInnen aus den Wohlfahrtsverbänden, der Verwaltung, der Wirtschaft sowie interessierte BürgerInnen, die ihre Sorgen im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen im Freistaat äußern wollten.

Mit einem Inputreferat führte Prof. Dr. Ralf Evers, Rektor der Evangelischen Hochschule Dresden, in die Veranstaltung ein. Dabei stellte er fest, dass die immer deutlichere Tendenz der Wohlfahrt, einer ansteigenden Konkurrenzsituation ausgesetzt zu sein, die Entfremdung von den eigentlichen Anliegen der Wohlfahrtsarbeit zur Folge hätte. Derselbe Effekt zeichnet sich durch ihre zunehmende Ausrichtung an den Mechanismen der freien Wirtschaft ab. Prof. Evers warnte somit davor, die Wohlfahrtspflege zu einer reinen Dienstleistungsbranche zu machen, da dies an der Kernausrichtung – Menschen in schwierigen Lebenslagen zu helfen – vorbei ginge. Es läge geradezu ein Widerspruch in der wettbewerbsorientierten Handlungsweise eines Marktes und dem Handeln der Wohlfahrtspflege.

Die Rolle des Staates in seiner derzeitigen Entwicklung bewertet Prof. Evers äußerst kritisch. Primäre Aufgabe der staatlichen Sozialpolitik sei es, die Lebenslagen der Bürger zu verbessern und funktionierende Strukturen sozialer Arbeit zu erhalten. Dagegen käme ihrer Steuerungsfunktion, mit dem Ziel einer gesteigerten Effizienz grundsätzlich erst eine sekundäre Bedeutung zu. Dies werde im heutigen Handeln der Politik so nicht (mehr) verstanden. Der Versuch, durch Einzelaktivitäten soziale Problemlagen einzudämmen, könne nicht funktionieren, wenn kein konsequentes Handeln bei der Bekämpfung von Ursachen stattfindet. Die aktuelle Entwicklung im Verhalten des Staates, sich sogar aus der konzeptionellen Arbeit für das Funktionieren des Sozialstaates zurückzuziehen und der Wohlfahrt die sozialen Probleme in der Gesellschaft allein zu überlassen, lehnt Prof. Evers daher ab. Der gefährliche Trend in der gegenwärtigen Diskussion sei, dass es „nicht mehr das Gefühl für die Notwendigkeit des sozialen Handelns in Deutschland gibt“, so Evers.

Auf dem anschließenden Podium stimmte Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des PARITÄTISCHEN Gesamtverbandes, der Analyse von Prof. Evers zu. Der Rechtfertigungsdruck für den Bezug sozialer Leistungen sei in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Außerdem würden Hilfeempfänger verstärkt diffamiert und die Ängste vor sozialem Abstieg gesteigert. Ziel des Sozialstaates sei es von Anfang an aber gewesen, den Menschen  grundlegende Existenzängste zu nehmen. Im Kontrast dazu bestünde seine Aufgabe heute hauptsächlich darin, die Menschen zur Selbstständigkeit und Verantwortung zu befähigen. Um dieses Ziel zu erreichen, sei es jedoch unabdingbar, eine Infrastruktur von Hilfesystemen zu gewährleisten. Eine Privatisierung der Verantwortung bietet dabei aber keine Lösung, da der Markt nicht in der Lage sei, adäquate Dienste und Angebote zu generieren.

Zum Veranstaltungsende nahm Schneider noch einmal Bezug auf die derzeitige Situation im Freistaat und kritisierte das Vorgehen der sächsischen Politik scharf: Hierzulande addierten sich die Sozialkürzungen sowohl des Bundes als auch die des Freistaates selber und führten zu – sich potenzierenden - langfristigen Folgewirkungen. Abgesehen davon, dass Kürzungen im Sozialbereich bei den bestehenden Bedarfslagen generell nicht vertretbar seien, wäre es umso unverständlicher, dass gleichzeitig auch die Förderung der bürgerschaftlichen Selbsthilfesysteme eingeschränkt werden soll. Sachsen schlage damit einen Kurs ein, der in der Bundesrepublik einzigartig sei - und hoffentlich keine Signalwirkung entfalte.

Gabriele Hofmann-Hunger vom Unternehmerverband Sachsen sprach ihrerseits aus der Sicht der freien Wirtschaft und betonte den beträchtlichen Einsatz kleiner und mittelständischer Unternehmen, die sich im Freistaat aktiv für soziale Projekte engagieren. Sie schränkte jedoch ein, dass niemand allen Bedarfen gerecht werden kann und demzufolge eine effektive Schwerpunktsetzung wichtig sei. Der grundsätzlichen Bedeutung einer guten sozialen Infrastruktur als Standortfaktor stimmte Frau Hofmann-Hunger zu, verwies aber gleichzeitig auf die Grenzen der Finanzierbarkeit. So sei hier die Zivilgesellschaft in besonderem Maße gefordert und die Verantwortung eines jeden Einzelnen für sich und für ein gelebtes Miteinander müsse stärker herangezogen werden. Dazu gehöre auch ein verbesserter Dialog zwischen Wirtschaft und Sozialbereich, der leider zu wenig stattfinde. Aus diesem Grunde sei sie sehr froh über die Einladung zur Veranstaltung gewesen und hoffe, dass man zukünftig öfter zueinander finde.

Mit der Veranstaltung möchte die Liga der Freien Wohlfahrtspflege einen Beitrag zur Diskussion um die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft leisten. Sowohl die PodiumsteilnehmerInnen als auch die Gäste waren sich weitgehend darüber einig, dass eine entwickelte Gesellschaft die Bedarfslagen ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht ignorieren darf. Daher gilt es, qualifizierte Angebote vorzuhalten, die Menschen in schwierigen Lebenslagen unterstützen und zu einer erneuten Selbstständigkeit der Betroffenen befähigen.

Zudem ist es wichtig, ein besseres Bewusstsein für soziale Problemlagen  und die Leistungen des sozialen Bereichs zu schaffen. Der Dialog zwischen den verschiedenen Gesellschaftsbereichen muss ausgebaut werden, um ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und Berührungsängste abzubauen.