Das Leben mit einer chronischen Erkrankung ist herausfordernd. Doch es sind nicht nur die Krankheitssymptome selbst, die belasten, sondern auch die emotionalen Begleiterscheinungen.
Ungewissheit, Stress und Schlafstörungen – all das kennen die meisten Menschen mit chronischen Erkrankungen. „Diese Komplizen sind bei fast allen Patientinnen und Patienten dieselben - ganz egal, welche chronische Erkrankung zugrunde liegt“, sagt Samira Peseschkian, die als Ärztin chronische Schmerzpatient*innen betreut und selbst Schmerzpatientin ist. Diese Begleiterscheinungen können dann im Alltag sogar eine stärkere Belastung sein als die Krankheitssymptome selbst.
Deshalb ist es wichtig, einen Blick auf die typischen Begleiterscheinungen von chronischen Erkrankungen zu werfen und sich bewusst zu machen, welche Faktoren einen Einfluss auf das eigene Wohlbefinden haben. Denn nur so können wir die Stellschrauben entdecken, an denen wir selbst etwas verändern und so dazu beitragen können, dass es uns wieder besser geht.
Jeder Mensch erlebt Stress. Wichtige Deadlines bei der Arbeit, Druck ausübende Vorgesetzte oder Besorgungen, die erledigt werden müssen – solche äußeren Stressfaktoren begegnen uns im Alltag immer wieder. Strategien wie Meditation, eine Runde zu laufen oder gemütlich auf dem Sofa ein Buch zu lesen, helfen dann, Stress wieder abzubauen und zur Ruhe zu kom-men. Diese Abwechslung von Stress und Entspannung ist wichtig, um in Balance zu bleiben.
Zusätzliche Stressfaktoren im Alltag
Für Menschen mit einer chronischen Erkrankung ist es deutlich schwieriger, Ausgeglichenheit zu erreichen. Sie sind ihren Krankheitssymptomen als innerem Stressor teils durchgehend, teils schubweise ausgesetzt. „Als chronisch erkrankte Person braucht man deshalb viel mehr Kraft, um mit Stress umzugehen, als ein gesunder Mensch“, so Peseschkian. Zudem wirken Arzttermine, die Beantragung benötigter Hilfsmittel und das tägliche Krankheitsmanagement als zusätzliche Stressfaktoren ein. Und wenn man durch die eigene Erkrankung schon wenig Energie hat, ist oft nicht mehr genug von dieser übrig, um auch noch Strategien zur Stressbewältigung einzusetzen.
Fehlender Schlaf als Belastung
Guter Schlaf ist wichtig, damit sich der Körper regenerieren kann. Nur so kann man mit genug Energie und Konzentration in den Tag starten. Zu wenig Schlaf birgt hingegen gesundheitliche Gefahren: „Langfristiger Schlafmangel erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz und Depressionen“, so Peseschkian.
Sind Schmerzen ein Symptom von chronischen Erkrankungen, stören diese den Schlaf oft erheblich. Das Einschlafen fällt schwer und in der Nacht wacht man immer wieder auf. Das führt zu einem Teufelskreis: „Wer Schmerzen hat, schläft schlechter und weniger, was durch die verkürzte Regenerationszeit zu einer herabgesetzten Schmerzschwelle führt. Die Schmerzwahrnehmung tritt früher ein. Das heißt, wir spüren Schmerzen schneller und stärker und schlafen dadurch noch schlechter“, erklärt Samira Peseschkian. Außerdem neige man bei Schlaflosigkeit dazu, über die eigenen Sorgen zu grübeln und Ängsten dadurch mehr Raum zu geben.
Leben zwischen Ungewissheit und Hoffnung
Was ist, wenn die Schmerzen nie mehr weggehen? Wie wird sich die Erkrankung weiter entwi-ckeln? Und was ist, wenn sie immer stärkere Einschränkungen mit sich bringt? Diese Fragen belasten chronisch Erkrankte immer wieder. Fragen, auf die es meist keine Antwort gibt, dafür umso mehr Spielraum, um sich die schlimmsten Szenarien auszumalen.
Die Ungewissheit, wie die eigene Krankheit verlaufen wird, ob Medikamente anschlagen oder welche Einschränkungen die Symptome noch mit sich bringen, ist für viele Betroffene die größte Belastung. Nie zu wissen, wie es einem am nächsten Tag, geschweige denn in einem Monat gesundheitlich ergehen wird, macht Planungen unmöglich und bringt ständige innere Unruhe mit sich. Was wiederum das Hineinsteigern in Ängste begünstigt. „Wer chronische Schmerzen hat, entwickelt deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Angststörung als ein schmerzfreier Mensch“, sagt Peseschkian.
Auswirkungen auf das soziale Umfeld
Chronische Erkrankungen betreffen nicht nur die erkrankte Person, sondern auch ihr Umfeld. Für Angehörige kann es belastend sein, nichts tun zu können, damit es dem geliebten Men-schen wieder besser geht. Diese Hilflosigkeit kann zu Konflikten führen.
Oftmals gibt es dann zwei unterschiedliche Szenarien: Die Erkrankung wird entweder zum einzigen Gesprächsthema und bekommt dadurch noch mehr Gewicht. Dabei kann es passieren, dass die betroffene Person den Eindruck gewinnt, nur noch auf die Erkrankung reduziert zu werden. Gegebenenfalls fühlt sie sich mit ihrer Erkrankung auch als Belastung für andere. Oder aber die Erkrankung wird verdrängt und gar nicht angesprochen, wodurch es für Erkrankte schwieriger wird, bei Bedarf nach Hilfe zu fragen.
Chronisch krank zu sein bedeutet also auch, immer abzuwägen, ob und wie viel man dem Gegenüber von der eigenen Erkrankung preisgibt. Erzählt man davon, muss man auch mit ungefragten Ratschlägen und unsensiblen Kommentaren rechnen. Gleichzeitig bietet Offenheit die Chance, Hilfe und Verständnis zu bekommen. Es ist also auch hier wieder ein Balanceakt.
Kontrolle zurückgewinnen
Mit einer chronischen Erkrankung hat man oft das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben – über den Körper, die Erkrankung und das eigene Leben. „Ungewissheit zu akzeptieren und für einen längeren Zeitraum auszuhalten, ist einer der härtesten Kämpfe, die chronisch Erkrankte auszutragen haben“, erzählt Peseschkian aus eigener Erfahrung. Deshalb sei es wichtig, auf guten Schlaf sowie den Umgang mit Ängsten und Stress zu achten. Denn das sind Stell-schrauben, an denen man selbst etwas ändern kann und die insgesamt eine große Wirkung haben können. „Wir können die Diagnose nicht wegzaubern, aber wir können an den Komplizen arbeiten. Das ist die halbe Miete“, so Peseschkian. Und mit dem Gefühl von Selbstwirksamkeit könne man auch wieder zu mehr Wohlbefinden gelangen.
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe März 2025 des Verbandsmagazins anspiel.
