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Erziehungshilfe mal anders: Zum Döneressen nach Berlin

Fahrradfahrer mit auf dem Pariser Platz in Berlin.

Im Sommer 2021 fuhr Sebastian Weidner, Sozialpädagoge beim KINDERLAND Sachsen e.V., mit vier Jugendlichen in sechs Tagen mit dem Rad rund fünfhundert Kilometer nach Berlin, um gemeinsam einen echten Döner zu essen. Er berichtet von diesem Ansatz der Erziehungshilfe.

Sebastian bremst vorsichtig. Sein Fahrrad kommt langsam und schwankend zum Stehen. Er ist blass im Gesicht, schluchzt kurzatmig und leise in die Runde: „Ich kann nicht mehr, ich breche ab.“ Ein paar Tränen rollen über seine Wangen, sein Blick geht ins Leere. Die anderen schauen ihn fassungslos und auch etwas mitleidig an. Stille.

Es ist der Vormittag des ersten Sonntags der Sommerferien 2021. Wir haben noch keine dreißig der fünfhundert geplanten Kilometer hinter uns. Neben Sebastian steht Fabian. Ihm war schon während des ersten Lockdowns die Decke auf den Kopf gefallen. Jede Motivation fehlte, den Berg an angestauten Schulaufgaben zu erklimmen. Stattdessen schlich er sich heimlich raus. Streunte auf der Suche nach Gleichgesinnten im verwaisten Wohngebiet herum. Daneben der zwölfjährige Louis, der morgens und abends einen Tablettencocktail zu sich nimmt, um für die Erwachsenen erträglich zu sein. Louis hat eine beeindruckende körperliche Ausdauer gepaart mit einer ganz eigenwilligen Kreativität.

Gemeinsam machbare Pläne schmieden und Unterstützung suchen

Je nachdem, wie es Pandemie zuließ, trafen wir uns seit März 2021 einmal in der Woche, um miteinander Rad zu fahren, zu schrauben, zu reden, zu planen, zu lachen und zu träumen. Dabei hatte auch jemand die Idee geäußert, man könne ja mal einen Döner in Berlin essen gehen. Daraus wurde dann schlussendlich der Plan dieser Radtour bis in die Hauptstadt. Natürlich mit Fahrt durch das Brandenburger Tor und Fernsehturm anschauen. Eine Ferienwoche mit einem Ziel. Und einfach mal weg sein. Unter freiem Himmel wollten wir übernachten, uns selbst versorgen und alles benötigte mit den Rädern transportieren.

Die Lindlau Handelsgesellschaft mbH aus Pirna, Großhändler für Fahrradteile, stattete die Jugendlichen mit Bekleidung, Reifen, Sicherheitsausrüstung und Werkzeug aus und schickte gleich noch einen engagierten Mitarbeiter mit. Die Stiftung CHILDREN finanzierte für die Jugendlichen zwei neue Fahrräder.

Und nun sollte unser Traum nach nur achtundzwanzig Kilometern ausgeträumt sein? Ja, ich wußte, dass Sebastian eine fortgeschrittene Skoliose hat, im Alltag kein Fahrrad fährt und immer sein Asthmaspray dabei hat. Er hatte zwar immer wieder mal Interesse an dem Ausflug geäußert, sich aber erst zehn Tage vor dem Start entschieden, mitzufahren.

Wir Sozialpädagog*innen des MeiLe-Kooperationsprojektes übernehmen Aufgaben für das Kreisjugendamt Meißen und sind unter anderem auf ambulante Erziehungsberatung spezialisiert. Wir alle haben die Möglichkeit, für und mit Klient*innen eigene Projekte zu realisieren. Bei dieser Aktion habe ich ambulante Erziehungsberatung eben etwas sehr wörtlich übersetzt. Ich verstehe mich aber auch weniger als Helfer, sondern vielmehr als Begleiter und Förderer.

Ideen entwickeln und Stärken stärken

In der Beratung mit Klient*innen setze ich überwiegend Konzepte der Transaktionsanalyse ein. Bei der Arbeit mit deren Kindern verbinde ich diese häufig mit erlebnispädagogischen Ansätzen. Durch diese Verknüpfung möchte ich unkomplizierte Zugänge ermöglichen und gleichzeitig alltagstaugliche, verständliche Konzepte zur eigenen Problembewältigung anbieten. Dabei bin ich sehr vorsichtig, was Lösungsvorschläge angeht. Das ist so ähnlich, als ob mich jemand nach einem Rezept für Hefeteig fragt. Ich kann dieses Rezept drei verschiedenen Menschen an drei unterschiedlichen Orten geben und es wird bei allen etwas anderes herauskommen. Hefe ist etwas Lebendiges. Sie reagiert empfindlich auf Temperatur und darauf, welches Mehl ihr für den Stoffwechsel zur Verfügung steht. Je nachdem, welche Voraussetzungen gegeben sind und wie ich den Teig führe, wird dann das Ergebnis.

Übersetzt in die Arbeit mit jungen Menschen heißt das, dass ich sie zusammenbringe und versuche, gleichzeitig einen offenen Raum zum Erzählen und Phantasieren zu schaffen. Kann man im Winter im Zelt schlafen? Woher kommt der Döner? Kann ich bei Mondschein ohne Licht Fahrrad fahren? Was ist Fleisch? Die Fragen nehme ich situativ auf und wir schauen, wie wir Antworten finden können. Wichtig ist mir dabei, dass die jungen Menschen die Ideen auch selbst umsetzen können. Sprich: Die Aktionen müssen nicht nur finanziell machbar, sondern auch ohne Erwachsene realisierbar sein. In diesem Fall hat sich das Fahrrad perfekt angeboten. Und wer vollbepackt fünfhundert Kilometer mit dem Rad überwunden hat, kann damit auch den Weg in die Schule schaffen oder Freunde besuchen, die nicht gleich im nächsten Hauseingang wohnen. Ob ich nach diesen Aktionen als verlässlich und vertrauensvoll eingeschätzt werde, das entscheidet dann immer noch jede*r für sich selbst.

Einer fehlte übrigens noch unserer betrübten Runde. Martin. Er ist bisher von jeder Schule geflogen und ihm gelingt es nicht immer, ein angemessenes Verhältnis von Nähe und Distanz zu anderen herzustellen. Kevin ist vorausgefahren, kam jetzt angerast und zauberte mit seinem neuen Hinterreifen eine fette, staubende Bremsspur auf den Schotterweg: „Was is‘n bei Euch kaputt?“ Als er das Problem verstanden hatte, erwidert er völlig selbstverständlich: „Sebastian, wir sind zusammen losgefahren und kommen auch wieder gemeinsam daheeme an, okay?“ Mit dieser Ansage hat er ein Grundanliegen dieser Aktion treffend auf den Punkt gebracht. Danke, Martin. Es geht um die Zeit an sich, die wir miteinander verbringen, ausfüllen und gestalten. Wir befinden uns weder im sportlichen Wettkampf noch veranstalten wir einen Wettbewerb, wer der coolste Gangster der Truppe ist. Wir einigten uns also, dass Sebastian nur noch jeden zweiten Kilometer treten muss und den anderen abwechselnd von einem aus der Gruppe geschoben wird.

Wir erreichten das Ziel gemeinsam, haben einen Döner gegessen, sind durch das Brandenburger Tor gefahren und machten unter dem Fernsehturm eine Pause. Alle hatten schmerzende Knochen und die Mücken haben ganze Arbeit geleistet. Doch wir waren sehr zufrieden. Übrigens: Sebastian fährt seit Beginn des neuen Schuljahrs mit dem Rad zur Schule.


Der Autor: Sebastian Weidner ist Sozialpädagoge und arbeitet beim KINDERLAND Sachsen e.V. im Sozialprojekt MeiLe, in dem vier Jugendhilfeträger seit 2006 miteinander Angebote der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe umsetzen.

Mehr dazu unter: www.kinderland-sachsen.de


Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe März 2022 unseres Verbandsmagagzins anspiel.

 

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