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Gastbeitrag: Autismus erkennen und Teilhabe ermöglichen

Ein Junge sitzt an einem Tisch und zeigt auf einen Wochenplan an der Wand. (Foto: Sergey Novikov/ Fotolia.com)

Ist von Autismus die Rede, kommen mit dem Thema weniger befassten Menschen schnell die klischeehaften Bilder vom Rechengenie mit fehlender sozialer Kompetenz in den Sinn. Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) stellen sich jedoch weit vielfältiger dar. Diese rechtzeitig zu erkennen, ist entscheidend, um die Teilhabe von Personen mit ASS zu fördern. Dr. phil. Philipp Knorr vom Autismuszentrum Oberlausitz wünscht sich deshalb eine stärkere Wahrnehmung des Themas in der Kinder- und Jugendhilfe und gibt einen Überblick.

Die Erfahrung zeigt, dass Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe vielfach Unsicherheiten im Umgang mit ASS zeigen. So liegen oft nur wenige bis keine praktischen Erfahrungen vor, spezifische Weiterbildungsangebote sind kaum vorhanden und umfassende autismus-spezifische Konzepte der kinder- und jugendhilflichen Förderung fehlen.

Eine wenig ermutigende Bestandsaufnahme, denn die Häufigkeit von ASS-Diagnosen hat in den letzten Jahren zugenommen. Selbst wenn dieser Anstieg vermutlich einer verbesserten Diagnostik und Früherkennung geschuldet ist und die tatsächliche Anzahl Betroffener wohl konstant ist, bleibt der Umstand alarmierend. Der Anteil an ASS-Betroffenen liegt somit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland zwischen 0,3 und 0,6 Prozent.

Damit die Teilhabe gerade in so prägenden Lebensabschnitten wie der Kindheit und Jugend gelingt, ist ein fachbereichsübergreifender Blick unumgänglich. Zusätzlich zum Einsatz multiprofessioneller Teams in der Kinder- und Jugendhilfe sollten Pädagog(inn)en und Sozialarbeiter(innen) verstärkt für die besonderen Bedarfe von Menschen mit ASS sensibilisiert werden. Nicht zuletzt, um sehr häufige negative Fehlinterpretationen des autismusbedingten Verhaltens zu vermeiden.

Autismus – Was ist das eigentlich?

Autismus-Spektrum-Störungen werden laut Weltgesundheitsorganisation zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt, deren Ursache vor allem in angeborenen Faktoren gründet. Verkürzt lassen sich ASS zu drei Diagnosen zusammenfassen: frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und das Asperger-Syndrom.

Die symptomatischen Ausprägungen von ASS zeigen sich durch Beeinträchtigungen in drei Bereichen, die starken Einfluss auf die gesellschaftliche Teilhabe besitzen, wenn beim Gegenüber keine Kenntnis hinsichtlich der Entwicklungsstörung herrscht.

Kinder und Jugendliche mit Autismus zeigen Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und im zwischenmenschlichen Kontakt. Sie haben beispielsweise Probleme, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zu verstehen und zur Steuerung der sozialen Interaktion zu nutzen. Dadurch finden sie schlecht Anschluss an Gleichaltrige. Ihr Verhalten wird oft als sozial-emotional und kommunikativ unpassend verstanden.

Insbesondere zwischenmenschliche Interaktion stellt Kinder und Jugendliche mit Autismus vor große Herausforderungen. Sie zeigen Auffälligkeiten in der Kommunikation und in der Sprache. So können sie beispielsweise Schwierigkeiten haben, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen und aufrechtzuerhalten (z. B. Small-Talk) oder Ironie, Witz, Sprichwörter und Redewendungen zu verstehen. Zudem nutzen und verstehen sie wenig Gestik und Mimik.

Ein weiterer Aspekt sind begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Dies kann sich unter anderem dadurch ausdrücken, dass sie zwanghaft auf bestimmte Handlungen, Regelungen oder Rituale bestehen, exzessiv ihren Spezialinteressen nachgehen oder nur schwierig spontane Veränderungen im (Schul-)Alltag bewältigen können. Manchmal zeigen sie wiederkehrende Bewegungsmuster, wie beispielsweise Händeflattern oder Hüpf- und Drehbewegungen.

Gleichzeitig können Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum auf allen Stufen intellektueller Leistungsfähigkeit stehen und werden somit auch in allen Schularten beschult. Lediglich die Hälfte der Betroffenen liegt im Bereich der geistigen Behinderung.

Bedürfnisse sehen, Orientierung bieten, Zusammenhänge verständlich machen

Die beschriebenen Symptome führen zu Beeinträchtigungen in schulischen, sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Alltags- und Funktionsbereichen. Ergänzend zur Stärkung der Betroffenen selbst ist insbesondere die Sensibilisierung des Umfeldes für das Störungsbild entscheidend, damit Teilhabe gelingen kann. Aspekte der jeweiligen Ausprägung sind dabei ebenso zu benennen wie förderliche Verhaltensweisen des Umfeldes.

Als Methode in der Arbeit mit den Menschen mit ASS und deren Umfeld hat sich unter anderem der TEACCH-Ansatz bewährt. Dabei wird versucht, über Visualisierung und Strukturierung der Umgebung Vorhersehbarkeit und somit eigenständige Handlungsfähigkeit zu schaffen. Die kann beispielsweise durch Ablaufpläne, Checklisten, Merkhilfen oder bestimmte Markierungen erfolgen.

Die soziale Interaktion ist für die Betroffenen eine besondere Hürde. Hierfür können Sozialtrainings genutzt werden, bei denen man sozialen Denkprozessen, Verhaltensweisen und Zusammenhängen nachgeht. Dazu gehören das Erlernen von Signalen der Körpersprache und von Emotionen oder auch die Auseinandersetzung mit sozialen Regeln und Abläufen. Methodische Ansätze dafür bieten etwa Sozialgeschichten, Comic Strips, soziale Anleitungen oder Rollenspiele.

Die aufgeführten Ansätze sollen als Anstoß dienen und ermutigen, sich mit Autismus-Spektrum-Störungen auseinanderzusetzen. Trägern, Einrichtungen und Diensten stehen in Sachsen verschiedene Beratungsangebote zur Verfügung. Neben spezialisierten Autismuszentren und Autismusambulanzen in Dresden, Chemnitz, Leipzig, Bautzen und im Vogtland bieten die Regionalverbände des Bundesverbandes Autismus Deutschland sowie diagnostizierende Stellen (i.d.R. Kinder- und Jugendpsychiatrien) weiterführende Beratung und fachliche Hinweise an.


Über den Autor: Dr. phil. Philipp Knorr arbeitet seit 2001 mit Menschen im Autismus- Spektrum und ist derzeit Leiter des Autismuszentrums Oberlausitz unseres Mitglieds Bürgerhilfe Sachsen e.V. Der in Psychologie promovierte Sonderpädagoge bietet Weiterbildungen und Beratung zum Thema an.


Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 2.2017 des Verbandsmagazins anspiel.