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Gastbeitrag: Die fünf häufigsten Irrtümer über bauliche Barrierefreiheit

Die Räder eines Rollstuhls stehen am Bordstein einer Straße.

Bauliche Barrierefreiheit ist Voraussetzung für selbstbestimmtes Leben und Teilhabe. Dem würde niemand widersprechen. Und doch halten sich gewisse Denkfehler, die Bauherren davon abhalten, sich dem barrierefreien Bauen zuzuwenden. Diese Fehleinschätzungen begegnen dem Architekten Kay Kaden in der Praxis immer wieder. Er klärt die fünf gängigsten Irrtümer auf.

Irrtum 1: Barrierefreiheit ist ein zusätzlicher Aufwand.

Bei vielen Bauvorhaben werden die barrierefreien Bausteine des Projektes zusätzlich geplant. Da gibt es beispielsweise ein barrierefreies WC zusätzlich zu allen anderen Toiletten oder es wird ein Plattformlift eingebaut statt eines Aufzuges oder einer geschickten Anordnung der Funktionen in ebenerdig zugänglichen Bereichen.

Das ist nicht notwendig. Barrierefreie WCs können zum Beispiel auf die Anzahl notwendiger Toiletten angerechnet werden und geschlechtergetrennt zugeordnet werden. So kann bei zwei verschiedenseitig anfahrbaren WCs auch Platz gespart werden. Aufzüge erleichtern Unterhalt und Pflege eines Gebäudes. Statt Putzmittelräumen in allen Etagen ist zum Beispiel ein Putzmittelraum ausreichend, wenn ein Aufzug vorhanden ist.   

Wichtig ist eine vorausschauende Planung. Der Bezug eines Gebäudes zum sich anschließenden Stadtraum bzw. Gelände ist entscheidend für den Entwurf. Wer die Weichen bereits zu Beginn der Planung richtig stellt, kann zusätzliche Aufwendungen vermeiden und barrierefrei bauen. Der Mehrwert an Komfort, Flexibilität und Nutzer*innenfreundlichkeit während der Lebensdauer des Gebäudes ist immens.

Irrtum 2: Barrierefreiheit ist zu teuer.

Die Angst vor höheren Baukosten lässt Bauherren immer wieder vor dem Thema Barrierefreiheit zurückschrecken. Ja, die Kosten können beim Neubau etwas höher ausfallen, wenn man alle Aspekte der Barrierefreiheit berücksichtigen möchte. Betrachtet man jedoch die Nutzungsdauer eines Hauses und den Umstand, dass eventuelle Ertüchtigungen im Nachgang erfolgen müssten, stellt sich der anfängliche Mehraufwand in der Regel als Ersparnis heraus.

Deshalb gilt es, in der Planungsphase aufmerksam zu sein. Neben der intensiven Beschäftigung mit den Fragen der Barrierefreiheit sollten die künftigen Nutzungskonzepte und die tatsächlichen Anforderungen an das Gebäude geprüft werden. Nur so lassen sich die besten und effektivsten Lösungen finden.

Irrtum 3: Barrierefreiheit machen wir, wenn der Bedarf da ist.

Dieser Irrtum schließt sich dem vorangegangen gerne an. Oft ist zu hören, dass es gar keine Nutzer*innen gibt, die Mobilitäts- oder sensorische Einschränkungen haben. Dann heißt es: „Das machen wir später, wenn der Bedarf da sein sollte.“ Abgesehen von den Schwierigkeiten und Kosten einer späteren Nachbesserung gewinnt hier der Tunnelblick die Oberhand. Durch diese selektive Wahrnehmung werden rund 30 Prozent der Nutzer*innen ausgeschlossen.

Barrierefreiheit wird dabei häufig auf Rollstuhlfahrer und Gehbehinderungen reduziert. Sensorische Einschränkungen und die Schnittmengen zur Unfallprävention werden jedoch ausgeblendet. Insbesondere ältere Menschen werden so ausgegrenzt, da mit dem Alter meist multiple Behinderungen einhergehen. Schlecht zu hören, schlecht zu sehen und eingeschränkte Mobilität kommen dann oftmals zusammen. Es gilt die Devise: Barrierefreiheit ist für alle komfortabel und sichert Teilhabe selbst für jene, die man eventuell noch nicht im Blick hat.

In weiten Teilen der Welt ist die barrierefreie Erreichbarkeit und Nutzbarkeit selbstverständlich. Gerade bei öffentlichen Verkehrsmitteln, in Hotels und Gaststätten erreicht Deutschland aber nur unterdurchschnittliche Standards. Hier hilft bereits ein Blick auf das Leben an sich. Jeder war mal ein Baby und wurde im Kinderwagen geschoben und jeder wird, so Gott will, alt und ist auf Erleichterungen und Unterstützung im Alter angewiesen. Barrierefreiheit nutzt allen, stärkt die Gesellschaft und unterstützt das Zusammenleben der Generationen.

Irrtum 4: Denkmalschutz schlägt Barrierefreiheit.

Besonders spannend wird es beim Bauen im Bestand. Wenn es sich dann noch um ein denkmalgeschütztes Gebäude handelt, dominiert zuweilen die Auffassung, dass die Vorgaben des Denkmalschutzes wichtiger als die Anforderungen an die Barrierefreiheit sind. Dem ist nicht so, denn beides sind gleichberechtigte Anforderungen an öffentlich zugängliche Bauwerke. Hier bedarf es jedoch der besonders geschickten Planung, um beiden Ansprüchen in ausgewogenem Maße gerecht zu werden.

Zu beachten ist dazu das 2013 novellierte Denkmalgesetz des Freistaates Sachsen. Die Aufgaben von Denkmalschutz und Denkmalpflege werden in §1 des Sächsischen Denkmalschutzgesetzes definiert. Dieser wurde um einen vierten Absatz mit dem Wortlaut: „Die Belange von Menschen mit Behinderungen oder mit Mobilitätsbeeinträchtigungen sind zu berücksichtigen.“ ergänzt. Der Handlungsspielraum für Bauherren, die mehr Barrierefreiheit in ihren denkmalgeschützten Gebäuden schaffen möchten, ist demnach gewachsen.

Irrtum 5: Barrierefreiheit behindert mein Bauvorhaben.

Bauliche Anlagen und Häuser sollen sicher nutzbar, tragfähig, wirtschaftlich und schön sein. Die damit verbundenen Anforderungen unterliegen teilweise strengen Regelungen. Daher nehmen manche Bauherren das barrierefreie Bauen als Bevormundung wahr und fühlen sich in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkt.

Ein Trugschluss, wenn man sich auf die Funktion und Aufgabe eines Bauwerkes besinnt. In aller Regel dienen Bauwerke dem Menschen. Die Kernkompetenz von Planung und Gestaltung sollte es deshalb sein, diesem Anspruch gerecht zu werden. Das schließt die barrierefreie und bedarfsgerechte Nutzbarkeit ein.

Die Anforderungen an ein barrierefreies Gebäude fokussieren auf relativ wenige, jedoch wesentliche Parameter. Die Regelwerke des barrierefreien Bauens definieren dabei (Schutz)Ziele. Die Wege zu diesem Ziel sind vielfältig. Den Bauherren und Planern verbleibt ein breiter Gestaltungsspielraum. Wenn barrierefreies Bauen ein selbstverständlicher Planungsinhalt ist, können schöne und den eigenen Vorstellungen genehme Lösungen entstehen.


Zum Autor: Kay Kaden ist diplomierter Ingenieur und verfügt über zwei Jahrzehnte Erfahrung als Architekt und Stadtplaner. Seit 2012 betreut er die Koordinierungs- und Beratungsstelle für barrierefreies Planen und Bauen bei unserem Mitglied Sozialverband VdK Sachsen e.V. in Chemnitz.


Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 2.2017 des Verbandsmagazins anspiel.