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Gastbeitrag: Fachkräftemangel. Wirklich?

Symbolbild: Eine Hand greift nach einer Spielfiguren in einer Reihe vieler Figuren. (Foto: Viktor Strasse)

Soziale Organisationen könnten Vorreiter bei der Personalgewinnung sein. Sie sind Profis für Dienstleistungen, Service, für Zuwendung und Aufmerksamkeit - letzteres das rarste Gut in unserer Gesellschaft. Vieles gibt es im Überfluss, aber Interesse und Wertschätzung sind spärlich gesät, denn unsere Zeit können wir nicht vermehren.

Ein Hotel in Coburg antwortet allen Bewerber*innen sofort und persönlich - innerhalb von 24 Stunden. Kurz und freundlich. Natürlich braucht die Entscheidung für eine Zu- oder Absage dann länger. Aber der persönliche Kontakt ist sofort da. Diese Servicehaltung ist essentiell in der Gastronomie und Hotellerie. Dennoch steht dieses Hotel alleine da mit persönlichen Antworten in überraschend kurzer Zeit. Und genau das macht den Unterschied.

Ein Witz ist lustig, wenn die Pointe überrascht. Dasselbe gilt für die Personalgewinnung. Aufmerksamkeit braucht einen Grund, hinzusehen. Sind Ihre Bewerber*innen positiv überrascht? Ohne Aufmerksamkeit keine Bewerbungen. Weniger Bewerbungen zu bekommen, heißt nicht automatisch, dass es einen Fachkräftemangel gibt. Fest steht nur: Sie bekommen keine Aufmerksamkeit.

Ein kleines Ingenieurbüro bekam zu wenige Bewerbungen. Die Personalverantwortliche hat sich daraufhin intensiv mit Ingenieur*innen beschäftigt und Fragen gestellt: Fahren sie Auto? Fahrrad? Bahn? Welche Musik hören sie? Gehen sie in Konzerte? Sitzen sie im Kino in der ersten oder letzten Reihe? Haben sie einen Twitter-, Instagram- oder Pinterest-Account? Lesen oder schreiben sie Bücher, Blogs, Magazine? Und noch andere Dinge.

Den Ausschlag gab die Frage: Welche Musik hören sie? Es gibt eine Musikrichtung, die Ingenieur*innen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen überdurchschnittlich häufig hören: Heavy Metal. Die Tickets für das legendäre Heavy-Metal-Festival in Wacken sind schnell ausverkauft, daher sind Tickets ein interessantes Gut für viele Ingenieur*innen. Das Ingenieurbüro hat also Tickets für das Wacken Open Air gekauft und in die Stellenanzeige geschrieben: ‘Unter allen passenden Bewerber*innen verlosen wir Wacken-Tickets.‘ Das war außergewöhnlich. Die Aktion sprach sich blitzschnell herum und die Firma bekam viele Bewerbungen von sehr guten Kandidat*innen. Das Ingenieurbüro hat zuerst die Zielgruppe verstanden und dann zu Recht Aufmerksamkeit gewonnen.

Kennen Sie Ihre Bewerber*innen wirklich? Wann haben Sie zum letzten Mal mit Überraschung Aufmerksamkeit gewonnen? Die Caritas in Düsseldorf startete 2017 die Aktion ‚Bei Anruf Ausbildung‘. Keine langen Verfahren. Risiko? Ja! Und?! Ohne Risiko nichts Neues. Nur eines ist sicher: Wer das macht, was alle machen, bekommt immer weniger Bewerbungen.

Wer von Ihnen gestaltet neue Magnete und Kooperationsmodelle? Auf schienenjobs.de kooperieren 140 Bahnunternehmen. In Stuttgart vermarkten 80 GaLaBau-Unternehmen gemeinsam ihre Ausbildung mittels 12 messbarer Qualitätskriterien. Das kostet wenig Geld. Und wirkt. Mit wem kooperieren Sie und tauschen gute Bewerber*innen aus? Warum bekommen qualifizierte Bewerber*innen weiter Absagen? Warum werden gute Mitarbeitende, die wechseln wollen, nicht wertschätzend im Netzwerk weiterempfohlen? Die Plattform cleverheads.eu ermöglicht datenschutzrechtlich korrekte Ein-ladungen und Empfehlungen in Netzwerken. Warum kooperieren nicht alle Mitglieder des Paritätischen Sachsen? Mit einer solchen Ko-operation wären Sie Vorreiter. Stattdessen dominiert weiterhin Konkurrenzdenken.

Seit 1984 steht der Fachkräftemangel tagtäglich in den Medien. Stellen Sie sich einen kurzen Moment vor, es gäbe genug Bewerber*innen - doch es kennt Sie keiner. Denkbar? Rund 23 Millionen Unternehmen werben in Europa um Fachkräfte. Was ist daher das echte Problem? Fachkräfte-mangel? Oder die Unbekanntheit der 23 Millionen Betriebe, Vereine, Stiftungen, Genossenschaften?

Vier Millionen Fachkräfte aus Deutschland arbeiten im Ausland, weil dort die Arbeitsbedingungen besser oder die Löhne höher sind. Lohnmangel? Oder gar Digitalisierungsmangel? Estland spart jedes Jahr 800 Jahre Arbeitszeit in der Verwaltung durch digitale Vereinfachung. Deutschland könnte 50.954 Jahre Arbeitszeit sparen – pro Jahr. Hand aufs Herz: Haben wir Fachkräftemangel in der Verwaltung oder Digitalisierungsmangel?

Ehrlich: Wir können doch nicht so weitermachen wie im letzten Jahrtausend und alles auf den Fachkräftemangel schieben. Auch statistisch haben wir einen absoluten Fachkräfterekord mit 44 Millionen Erwerbstätigen. Lars Fiehler, Sprecher der Industrie- und Handelskammer Sachsen, sagt: „Einen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt es nicht. Die viel zu hohen Zahlen basieren nicht selten auf diffusen Hochrechnungen. Jeder weiß das, trotzdem plappern es alle nach.“

Beantworten Sie allen Bewerbungen konsequent die einzig relevante Frage, nämlich WARUM bei Ihnen? Was bringt mir das? Ein Betrieb bietet zehn Tage bezahlte Fortbildung zusätzlich zu den Urlaubstagen. Da geht keiner mehr weg. Wofür stehen Sie? Ein Unternehmen verbietet Überstunden. Die hohe Fluktuation hat sich dadurch umgedreht in eine Warteliste mit Kandidat*innen.

Wer bildet Menschen aus, die ihr Studium abbrechen? Das sind hunderttausende Potenziale pro Jahr.

Ein Unternehmen hat in allen Bau-märkten der Stadt kopierte Zettel zwischen die Kabelbinder gesteckt: „Wollen Sie im Trockenen arbeiten?“ Nach 15 Tagen hatte das Unternehmen 30 Elektriker*innenstellen besetzt. Ein anderes Unternehmen hat bei allen Überweisungen drei Cent zu viel überwiesen. Die Buchhaltung, die daraufhin anrief, hat sofort ein Stellenangebot bekommen. Sie hatte bewiesen, dass sie gründlich und ehrlich ist.

Bieten Sie Radbegeisterten, die das gesuchte Jobprofil erfüllen, eine Radtour in Sachsen an. Auf dieser Tour lernen Sie die Radler*innen kennen und umgekehrt. Diverse Medien werden darüber berichten. So wie beim Hype um den Glaser in Cuxhaven, der eine Glasscheibe zu Boden fallen ließ und über die Verbreitung auf Facebook drei Azubis gefunden hat. Das war originell. Edeka hat für den Spot ‚heimkommen‘ auf YouTube 60 Millionen Klicks bekommen. Das sind 60 Millionen Klicks weniger für Ihren Betrieb. Streaming-Dienste wie Netflix ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Parallel ist die Zahl der Stellenbörsen inflationär auf unübersichtliche 2.500 gestiegen. Wissen Sie, wer sich NICHT bei Ihnen bewirbt? Immer die Mehrheit potenzieller Fachkräfte.

Nur weil der Gesundheitsminister 33.000 Pflegekräfte im Ausland suchen will, heißt es nicht, dass diese kommen wollen. Die Realität beschreiben das Ärzteblatt: „Ausländische Pflegekräfte haben geringes Interesse an Deutschland“ und Focus Online: „Pflege in Deutschland international nicht konkurrenzfähig“. Haben wir Pflegekräftemangel oder Attraktivitätsmangel? Pflegekräfte stehen seit Jahren auf Platz 1 der Krankenstatistik. In den Niederlanden hat buurtzorg 14.000 gesunde, glückliche Beschäftigte in der ambulanten Pflege.

Behandeln Sie Bewerber*innen und Mitarbeitende demnach wie Kund*innen. Dann klappt das! Über-häufen Sie sie mit Wertschätzung! Wertschätzung kostet kein Geld.

Wie überraschen und zelebrieren Sie Bewerber*innen und Mitarbeitende?


Über den Gastautor: Martin Gaedt ist Autor der Bücher Mythos Fachkräftemangel und Rock Your Idea. Er ist Preisträger Alternativer Wirtschaftsbuchpreis 2016 und Land der Ideen 2012. Seit 1999 ist Martin Gaedt Gründer, Unternehmer, Arbeitgeber und Recruiter. Der Autor steht in engem Kontakt mit Personalverantwortlichen verschiedener Branchen in ganz Deutschland.


Der Artikel erschien in der Ausgabe 2.2018 des Verbandsmagazins anspiel.

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