Selbsthilfe und Empowerment sowie der Wunsch nach Vernetzung und die Sensibilisierung für die Lebenslagen bestimmter Bevölkerungsgruppen sind oft Motivation für zivilgesellschaftliches Engagement. Diese und weitere Ziele verfolgt auch der neu gegründete Landesverband Sächsischer Migrant*innenorganisationen. Darüber sprachen wir mit dessen Vorstandsvorsitzender Natalie Adakh.
Frau Adakh, im November 2024 wurde der Landesverband Sächsischer Migrant*innenorganisationen gegründet. Welche Rolle möchten Sie mit dem Verband in Sachsen einnehmen?
Natalie Adakh: Wir möchten die Interessen unserer Mitglieder gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angemessen vertreten. Wir wollen daher bei allen Belangen, die unsere Mitglieder betreffen, zentraler Ansprechpartner für diese Akteur*innen werden und so gemeinsam für ein weltoffenes Sachsen arbeiten.
Gerade weil sich die öffentliche Debatte derzeit ausschließlich auf die Probleme der Zuwanderung fokussiert, wollen wir deren Chancen in den Mittelpunkt rücken. Die Menschen, die in unseren Mitgliedsorganisationen tätig sind – und so viele weitere in Sachsen und in ganz Deutschland – leisten tagtäglich einen großen Beitrag für das Land. Das muss sichtbarer werden. Dafür wollen wir eine starke Stimme sein.
Welches sind in den kommenden zwei Jahren die zentralen Ziele des Verbandes?
Natalie Adakh: Langfristig wollen wir die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund in Sachsen stärken und erweitern, die wichtige Arbeit unserer Mitglieder sichtbar machen und sie bei Herausforderungen unterstützen. Kurzfristig ist für uns sehr wichtig, Fördermittel für den Verband zu erhalten, damit wir schnellstmöglich anfangen können, unsere langfristigen Ziele anzugehen.
Alle, die schon mal eine Organisation gegründet haben, wissen, welcher Aufwand damit verbunden ist. Derzeit sind wir rein ehrenamtlich unterwegs. Eine hauptamtliche Stelle wäre wichtig, um verlässliche Strukturen zu schaffen.
Welchen Beitrag wollen und können Migrant*innenselbstorganisationen zur sozialen Daseinsvorsorge in Sachsen leisten?
Natalie Adakh: Migrant*innenselbstorganisationen sind bereits in vielen Bereichen der sozialen Daseinsvorsorge vertreten. Besonders im Bildungs- und Kulturbereich decken sie viele Bedarfe ab, sowohl für Menschen mit Migrationsbiografie als auch für alle anderen. Die Angebote reichen dabei von Kunstausstellungen über Beratungsstellen bis hin zu digitalen Stadtplänen.
Die Arbeit der Migrant*innenselbstorganisationen wird jedoch – wie in den meisten sozialen Bereichen – durch begrenzte Fördermitteltöpfe stark eingeschränkt. Die meisten kämpfen gegen bürokratische Windmühlen, jedes Jahr aufs Neue. Hinzu kommt, dass gerade junge Organisationen die Abläufe und Möglichkeiten hier in Deutschland erst einmal kennenlernen müssen. Im Kontakt mit der Verwaltung ist die Amtssprache für Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, eine Herausforderung. Missverständnisse bei Antragstellungen begegnen uns immer wieder. Selbst Muttersprachler*innen haben da oft Probleme.
Viele soziale Einrichtungen in Sachsen haben sich in den letzten Jahren auf den Weg der interkulturellen Öffnung begeben. Was ist aus Ihrer Sicht bei einem solchen Prozess besonders wichtig?
Natalie Adakh: Ich freue mich, dass immer mehr Einrichtungen diesen Weg einschlagen. Er ist nicht immer leicht, da in interkulturellen Kontexten Konfliktpotenzial besteht, das es in intrakulturellen nicht gibt. Allein die sprachlichen Hürden können solche Konflikte hervorrufen, aber auch allgemeine kulturelle Unterschiede können zu Reibungspunkten führen. Daher rate ich allen, die über solche Herausforderungen stolpern: Reden Sie miteinander! Ehrliche und respektvolle Kommunikation kann viele Konflikte oft auf einfache Missverständnisse zurückverfolgen. Außerdem finde ich es wichtig, dass Mitarbeiter*innen sozialer Einrichtungen in bestimmten Bereichen wie Antirassismus und Antisemitismus geschult werden, um sich aktiv mit vorhandenen Vorurteilen auseinanderzusetzen und so strukturellem Rassismus entgegenzuwirken.
Was wünschen Sie sich für eine künftige Zusammenarbeit mit sächsischen Organisationen im Sozial- und Bildungsbereich?
Natalie Adakh: Wir wünschen uns einen offenen Austausch, von dem alle profitieren können. Oft gibt es bereits Best Practices und Erfahrungsberichte, die mit uns, aber auch zwischen den Organisationen selbst geteilt werden können. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in Zukunft sowohl als Ansprechpartner als auch als Vernetzungsvehikel für diese Organisationen fungieren können.
Migration wird in der öffentlichen Diskussion kontrovers und zunehmend auch populistisch diskutiert. Wie bewerten Sie die Migrationsdebatte in Sachsen und Deutschland?
Natalie Adakh: Ich empfinde die Debatte als leider hochgradig emotionalisiert, kaum faktenbasiert und dadurch alles andere als zielführend. Es gibt reale Probleme, allerdings gibt es – zumindest im politischen und medialen Diskurs – kaum echte, wirksame Lösungsvorschläge, sondern lediglich populistische Ansätze. Diese stärken rassistische Tendenzen und Ausgrenzung in der Gesellschaft. Das kann einen nur frustrieren. Ich wünsche mir eine lösungsorientierte und wissenschaftlich fundierte Diskussion, die die betroffenen Menschen als Gesprächspartner*innen einbezieht.
Gibt es noch etwas, dass Sie Fach- und Führungskräften in Sozial- und Bildungsorganisationen mitgeben möchten?
Natalie Adakh: Interkulturalität mag Herausforderungen mit sich bringen, aber die Anstrengungen werden sich lohnen. Viele verschiedene Biografien bedeuten viele verschiedene Perspektiven. Schauen Sie gern mal nach, welche Migrant*innenorganisationen in Ihrer Nähe aktiv sind und vernetzen Sie sich. Besonders in Zeiten der Unsicherheit für viele gemeinnützige Einrichtungen sollten wir umso mehr zusammenstehen. Wenn wir als Landesverband arbeitsfähig sind, wollen wir bei eben jener Vernetzung unterstützen. Der gute Kontakt zum Paritätischen Sachsen ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Baustein.
Frau Adakh, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen dem Landesverband der Sächsischen Migrant*innenorganisationen viel Erfolg.
Natalie Adakh ist Vorstandsvorsitzende des Landesverbands Sächsischer Migrant*innenorganisationen e.V. und arbeitet hauptamtlich als Projektmitarbeiterin bei den Organisationen Afghanistan Forum in Deutschland (AFGiD) e.V. und Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) e.V.
