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Jugendarbeit: Streetwork zwischen den Welten

Online-Spiele mit fantastischen Welten gehören für viele Kinder und Jugendliche heute selbstverständlich zur Realität. Für die aufsuchende Jugendarbeit bedeutet dies, umzudenken und neue Wege in der Ansprache und Begleitung zu finden. Ein Ansatz ist ‚Hybride Streetwork‘.

Streetworker*innen arbeiten auf der Straße. Das sagt eigentlich schon der Name. Doch was, wenn die Jugendlichen eher zu Hause via Bildschirm im virtuellen Raum unterwegs sind? Ans Fenster klopfen geht schlecht und klingeln auch nicht.

Als Kai Fritzsche 2013 für den Stadtjugendring im Dresdner Umland junge Menschen erreichen soll, wird ihm schnell klar: Auf der Straße hängt im ländlichen Raum kaum noch jemand ab. Seine zur Vorbereitung erstellte Sozialraumanalyse offenbart, dass ein großer Teil der Jugendlichen Online-Games spielt. Verbunden über das Internet wandeln die Heranwachsenden vom heimischen Zimmer aus durch virtuelle Welten. Nicht allein, sondern oft gemeinsam mit Freund*innen. Sie lösen Aufgaben, erkunden unbekanntes Terrain und müssen sich manchmal gegen unangenehme Widersacher durchsetzen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes spielen rund 70 Prozent der 14- bis 29-jährigen regelmäßig Videospiele. Wer immer noch glaubt, diese Jugendlichen würden ihre Zeit nicht in der „echten“ Welt verbringen, irrt. Insbesondere Rollenspiele, in denen die Spielenden als individuelle Charaktere in Räumen mit eigenen Regeln agieren, müssen ebenso als real verstanden werden. Für die Spieler*innen sind diese Welten ein genauso wirklicher Ort wie die Schule, das Schwimmbad oder das eigene Zimmer.

Kontakt aufbauen – online und offline

Kai Fritzsche, der heute unter anderem als freier Dozent für Digitalisierung und Soziale Arbeit sowie als Programmleiter des Freiwilligen Sozialen Jahres ‚Politik‘ bei der Sächsischen Jugendstiftung tätig ist, musste sich überlegen, wie er seine Zielgruppe unter diesen Voraussetzungen erreichen kann. Der Ort der Begegnung war nicht so leicht begehbar, wie es für Streetworker*innen bis dato möglich war. Sich einfach in irgendwelche Online-Spiele einzuklinken, kam für den Sozialarbeiter nicht in Frage und wäre unweigerlich zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn woher sollte er wissen, wer in der virtuellen Welt tatsächlich ein Jugendlicher aus seinem Einzugsgebiet ist? Und welches der vielen Spiele sollte es überhaupt sein? Zumal es in der Arbeit mit jungen Menschen immer auch um Vertrauen geht.

“Beim ‚Hybride Streetwork‘ - so der aktuelle Fachbegriff für die off- und online agierende aufsuchende Sozialarbeit - steht immer der persönliche Kontakt am Anfang”, betont der 36-jährige. „Über die aufsuchende Arbeit haben die Jugendlichen mich zuerst persönlich kennengelernt. Dabei erkundigte ich mich, ob und was sie spielen. Auf welchen Plattformen sie unterwegs sind. Schließlich wurde ich zum Mitspielen eingeladen und habe mich dann von den Jugendlichen in das Spiel einführen lassen“, berichtet Fritzsche. Das sei essentiell, denn das Spiel ist ihre Welt, in der sie sich bestens auskennen. Wer ähnliche Wege gehen möchte, kann sich über verschiedene Spiele vorinformieren. Das geht beispielsweise über Videos auf bekannten Online-Video-Portalen. Kai Fritzsche ermutigt: „Bloß nicht zu verkopft an das Thema herangehen. Die Profis an diesen Orten sind die Jugendlichen, denn sie verbringen dort viel Zeit. Sich von ihnen anleiten zu lassen und darüber auch ihr Verständnis vom jeweiligen Ort kennenzulernen, hilft, um dabei im Miteinander eine vertrauensvolle Ebene aufzubauen. Eine innere Gastfreundschaft zulassen und auch mal Fehler im Spiel zu machen, das hat in meiner Arbeit sehr gut funktioniert.“

Als Streetworker*in erkennbar bleiben

Auch in der virtuellen Welt ist es wichtig, mit seiner Rolle als Streetworker*in offen umzugehen. Als Spielername verwendete Kai Fritzsche das Pseudonym Streetworker Kai. Seine Mitspieler*innen sollten stets wissen, mit wem sie es zu tun haben. Von Beginn an machte er zudem klar, was seine Figur im Spiel nie tun würde. Dazu gehört beispielsweise, das Verletzen oder Töten anderer Wesen. Die viel diskutierten Egoshooter erachtet er nicht nur deshalb als ungeeignet für die virtuelle Arbeit mit den Jugendlichen. Um eine gemeinsame Ebene entwickeln zu können, ist Zeit und Austausch notwendig. Von daher empfehlen sich Spiele, in denen es um das gemeinsame Erkunden oder Aufbauen geht. Man agiert als Team und über sogenannte Team-Chats kann ständig miteinander kommuniziert werden. „Man ist mit seinen Mitspieler*innen unterwegs, löst Aufgaben und unterhält sich dabei. Und das über mehrere Stunden am Stück. Wann gelingt es in der aufsuchenden Arbeit sonst, über drei bis vier Stunden mit Jugendlichen spazieren zu gehen? Das ist eher selten“, betont der ehemalige Streetworker. Mit der Zeit kommen dann auch andere Themen zur Sprache, die nicht unbedingt etwas mit dem Spiel zu tun haben. Durch die Transparenz der eigenen Rolle gelingt der Vertrauensaufbau auch im virtuellen Rahmen.

Bei allen Kommunikationsmöglichkeiten und gemeinsamen Aktivitäten im virtuellen Raum - der persönliche Kontakt außerhalb der Spielewelt ist ebenfalls wichtig. Um diesen zu initiieren, können Ansätze hilfreich sein, die Begebenheiten aus dem jeweiligen Spiel aufgreifen. Als Beispiel benennt Kai Fritzsche das gemeinsame Lagerfeuer, an dem die virtuellen Charaktere in dieser Zeit oft verweilten. Er schlug den Jugendlichen daraufhin im Spiel vor, ein echtes Feuer zu organisieren.

Einzelgespräche sollten ohnehin nie in der virtuellen Spielwelt geführt werden. Schon aus Datenschutzgründen müsse dies - wenn es schon digital geschieht - über sichere Messenger passieren, ist Kai Fritzsche überzeugt und verweist hierbei auf Dienste wie Signal oder Threema. Selbst wenn die Jugendlichen den jeweiligen Dienst nicht hätten, sei die Bereitschaft groß, sich die jeweilige App für das Gespräch herunterzuladen, so seine Erfahrung. Doch gerade in Krisensituationen oder wenn die Jugendlichen von sich aus das Gespräch suchen, sei der unmittelbare persönliche Kontakt im sicheren Rahmen immer die erste Wahl.


Was sich hinter der Idee des ‚Hybride Streetwork‘ genau verbirgt sowie den Kontakt zu den Initiatoren (Johannes Brock, Kai Fritzsche) des Ansatzes finden sie auf der Website:

www.hybride-streetwork.de


Der Artikel erschien zuerst in der März-Ausgabe 2021 des Magazins anspiel. mit dem Schwerpunkt "Ab jetzt digital?!"