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Jugendhilfe: Kein Kind sprengt ein System

Symbolbild: Zwei Kinder bei einer Kissenschlacht. (Allen Taylor - unsplash.com)

Der Begriff Systemsprenger*in weist Kindern eine Verantwortung zu, die eigentlich das Hilfesystem tragen muss. Der Pädagoge Stan Albers fordert ein Umdenken, um Kindern wieder Entwicklungschancen zu eröffnen.

Kein Kind sprengt ein System. Dies für möglich zu halten, käme einem Aberglauben gleich, Kinder seien gefährliche, irrationale Wesen, wenn wir sie nicht bändigen. Das Problem ist komplex und wird, wenn es unverstanden bleibt, zu einem Problem der Kinder. Eher sprengt das System Kinder, weil es nicht funktioniert.

Dass gegenwärtig mehr Verhaltensweisen toleriert werden als früher, ist eine gute Entwicklung - aber sie stellt einzelne Kinder vor das Rätsel ihres eigenen Verhaltens. Infolge von Inklusion und Ambulantisierung werden Kinder zudem immer seltener stationär versorgt – ebenfalls eine gute Entwicklung. Mehr und mehr ins Gewicht fällt damit aber eine Gruppe von Kindern, die massiv stört, sich und andere gefährdet und von daher nicht angenommen wird. Die Debatte über Systemsprenger*innen ist somit eine Debatte über eine Restgruppe. Aber Inklusion - richtig gedacht - kennt keine Restgruppe.

Systemsprenger*innen über Krisen definieren

Krisen bedrohen alle und sie tun dies, weil sie den Alltag außer Kraft setzen. Sie setzen Adrenalin frei und bringen alle in Aufruhr. In der Krise handelt man nicht überlegt, sondern kurzschlüssig.

Wenn ein Kind einen Stein wirft, in der Dachrinne steht oder vor ein Auto läuft, wird gehandelt. Wenn um ein Kind herum eine Krise entsteht, wird geschaut, wie diese beendet werden kann. Das Jugendamt vermittelt das Kind dann in eine Einrichtung. Damit ist aber das Problem nicht gelöst. Meist wurde die Krise nicht verstanden und die Einrichtung ist auf das Kind nicht vorbereitet. Das Kind ist verzweifelt. Das sind genau die Voraussetzungen dafür, dass die Betreuung in dieser Einrichtung fehlschlägt.

Gefangen im Drehtür-Effekt

Die Drehtür wird hiermit zum ersten Mal in die gegenläufige Richtung genutzt. Das Kind muss die Einrichtung verlassen und kommt absurderweise meist wieder dorthin, wo es vorher nicht hat bleiben können - nämlich nach Hause. Intensivpädagogische Einrichtungen begeben sich damit in den Widerspruch, dass sie die Betreuung aus dem gleichen Grund beenden, aus dem sie sie begonnen haben. Das Jugendamt improvisiert dann, was fachlich fragwürdig und kostspielig ist. Zudem ist Improvisieren vom Gesetz nicht vorgesehen.

Das Kind muss unabdingbar aus einer Krise herausgebracht werden, aber damit ist es nicht getan. Es muss in eine Betreuung gebracht werden, die der übernommenen Aufgabe gewachsen ist. Denn damit die Krise sich nicht wiederholt, muss sie verstanden und alle Faktoren müssen identifiziert werden.

Die Lücke im System

Kinder mit herausforderndem Verhalten haben meist Schwierigkeiten, sich an andere Menschen zu binden. Wenn sie sich beengt oder bedrängt fühlen, provozieren sie und gefährden dadurch die noch bestehenden Beziehungen. Wenn andere aus Selbstschutz Grenzen formuliert haben, wird das Kind genau diese Grenzen überschreiten, um aus der Beengtheit herauszufinden. Doch ein Kind, das permanent Krisenbewältigung betreiben muss, kann sich nicht entwickeln. Wir brauchen demnach einen Einrichtungstypus, der Krise kann.

Die Krise ist kein Instrument der Pädagogik. Wenn eine Krise da ist, müssen alle sie aushalten. Krisen müssen unwichtig werden, damit anderes an Bedeutung gewinnen kann. Systemsprenger*innen gibt es, weil Einrichtungen, Ämter und Schulen nicht in der Lage sind, sich anlässlich einer Krise selbst in Frage zu stellen. Das geschieht nicht aus Böswilligkeit, sondern zeigt eine Leerstelle der Organisationebenen auf. Weil im System ein Krise könnender Einrichtungstypus fehlt, produziert das System Systemsprenger*innen.

Interessen erkennen und entwickeln

Herausforderndes Verhalten ist kein Wesensmerkmal bestimmter Kinder, sondern ergibt sich aus einer Endlosschleife von Unverstandensein und Krise. Aufgabe ist es, diese Schleife nicht nur zu unterbrechen, sondern sie überflüssig zu machen. Doch es fehlt ein passendes Angebot. Wenn wir in Einrichtungen Krisen aushalten und relativieren können und Kindern vermitteln, dass sie nicht für jenes Verhalten aus der Einrichtung fliegen, für das sie überhaupt erst hineingekommen sind, können sich Kinder für ihre Entwicklung öffnen. Dafür müssen wir in der Lage sein, über unseren Schatten zu springen und uns selbst einiges abverlangen und weniger dem Kind. Dann kann es seine Interessen zeigen und sich nach und nach mit etwas anderem beschäftigen als mit Krise. Kein Kind wird alle seine Verhaltensmuster ablegen. Aber alle Kinder können lernen, mit sich umzugehen, und sie sind umso mehr dazu bereit, wenn sie ihren Interessen nachgehen können.

Wie geht es weiter?

Nachdem ein Kind von den Krisen und vom herausfordernden Verhalten weg zu sich selbst geführt wurde, steht die Frage an, wie es weitergeht. Kann das Kind zurück nach Hause? Wie sieht die Alternative aus? Die Frage darf auf keinen Fall über den Kopf des Kindes hinweg entschieden werden. Der weitere Weg hat die größte Chance auf Erfolg, wenn er mit dem Kind zusammen beschritten wird.

Clearing-Einrichtungen nehmen Kinder mit herausforderndem Verhalten aus Krisen heraus auf. In einem Zeitraum von bis zu zwei Jahren wird das herausfordernde Verhalten verstanden, die Krisen werden ausgehalten und relativiert. Die Interessen des Kindes werden gefördert, das Kind beginnt sich zu entwickeln und gleichzeitig nimmt das herausfordernde Verhalten ab.

Die Mitarbeiter*innen der Clearing-Einrichtung arbeiten nicht nur mit dem Kind, sondern auch mit den Eltern und mit anderen Einrichtungen zusammen. Als „geklärter Fall“ verlässt das Kind dann die Clearing-Einrichtung und kann in eine Folgeeinrichtung oder zurück nach Hause gehen. Wenn wir auf diese Weise bei jungen Kindern mit herausforderndem Verhalten frühzeitig ansetzen, trocknen wir die Laufbahn der Systemsprenger*innen aus. Als Kompetenz-Einrichtungen für herausforderndes Verhalten werten Clearing-Einrichtungen die Betreuungslandschaft insgesamt auf und sie haben viele Vorteile. Fachkräfte, die sich für diese Kinder einsetzen möchten, können im Rahmen einer Clearing-Einrichtung sicher arbeiten und müssen keine Einzelkämpfenden oder gar Hero*innen mehr sein. Außerdem wird keinem Kind das beunruhigende Signal gegeben, dass es nicht in der Einrichtung gehalten werden kann. Das Ganze bleibt zwar teuer, doch zahlt sich im Ergebnis sowohl monetär als auch inhaltlich aus.


Der Autor: Stan Albers ist Geschäftsführer der Gemeinnützigen Känguru Wohnen GmbH. Er entwickelt zusammen mit Känguru Leipzig Clearing-Einrichtungen für Kinder mit herausforderndem Verhalten.

Tel.: 0177 - 275 71 50
E-Mail: stan.albers(at)ifb-stiftung.de


Der Artikel erschien zuerst in der September-Ausgabe unseres Verbandsmagazins anspiel.

 

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