Immer wieder gibt es Kinder und Jugendliche, die in der Schule auffällig werden oder dem Unterricht fernbleiben. Bei einem bestimmten Personenkreis schaffen es selbst spezielle Schulverweigererprojekte nicht, die Schulfähigkeit wieder herzustellen. Das Projekt TOIS geht deshalb einen ungewöhnlichen Weg – mit Erfolg.
Robert störte immer wieder den Unterricht. Zum Teil wurde er gewalttätig und irgendwann kam er gar nicht mehr zur Schule. Was von den Lehrkräften hinter vorgehaltener Hand als Entlastung empfunden wurde, bedeutete für Robert den ersten Schritt in Richtung gesellschaftlichen Ausscheidens. Als die gängigen Ordnungsmaßnahmen, Elterngespräche und schließlich der offizielle Unterrichtsausschluss nichts brachten, nahmen sich pädagogische Fachkräfte eines Schulverweigererprojektes des 12-Jährigen an. So sehr diese sich auch engagierten und alle methodischen Register zogen, an Robert war kein Herankommen. Was tun? Den Jungen abschreiben und ohne Bildung auf den Lebensweg schicken?
Gründe der Verweigerung erkennen
Das Projekt Therapie Orientierter Internetbasierter Sonderunterricht (TOIS) bietet Jungen und Mädchen wie Robert eine Chance. Dabei bricht das Projekt mit einer pädagogischen Grundregel: der Beziehungsarbeit. Projektleiter Paul Wiener erklärt den Ansatz wie folgt: „Wir haben festgestellt, dass Kinder, die zu uns kommen, in der Regel prägende negative bis hin zu traumatische Erfahrungen gemacht haben. Diese erschweren es ihnen, die Kontrolle abzugeben oder mit Erwartungshaltungen umzugehen, wie es in der Schule notwendig ist. Sie verweigern sich nicht der Bildung, sondern der Interaktion mit einer Lehrkraft oder anderen Menschen allgemein. Durch die persönliche Vorprägung entsteht ein Druck, der beispielsweise mit Angststörungen einhergeht. In der Folge greift das Kind oder der Jugendliche zu Vermeidungsstrategien. Wir haben uns daher entschieden, den Teilnehmenden für einen angemessenen Zeitraum die Kontrolle darüber zu überlassen, inwieweit sie interagieren und eine Beziehung aufbauen wollen.“
Den Großteil aller Teilnehmenden machen Kinder zwischen acht und zwölf Jahren aus. Sie wieder oder überhaupt bildungsfähig zu machen, ist das Ziel von TOIS. In fast 70 Prozent der Fälle kehren die Kinder in den normalen Schulalltag zurück. Dafür stehen dem Projekt maximal sechs Monate zur Verfügung, in denen die Schülerinnen und Schüler gezielt Einzelunterricht erhalten. Diese intensive Einzelbeschulung ermöglicht es, mit großer Geschwindigkeit – die Fachliteratur spricht von einem etwa 30 Prozent höheren Lerntempo – zum Niveau der Vergleichsklassen aufzuschließen. Der Erfolg stellt sich jedoch nur ein, wenn es gelingt, das Kind von sich selbst zu überzeugen. Deshalb steht am Anfang immer eine detaillierte Diagnose, bei der die psychischen Ursachen des Schulverhaltens festgestellt werden. Im weiteren Verlauf bietet TOIS den Kindern einen Schutzraum, in dem sie selbst entscheiden, wann und wie sie handeln.
Beziehungsarbeit anders verstehen und erst einmal loslassen
Mittels computergestützter Kommunikation werden Handlungserwartungen aufgehoben und die als Druck empfundene Nähe einer Person, die von Berufs wegen beauftragt ist, in den persönlichen Sicherheitsbereich der Beteiligten einzudringen, wird vermieden. Durch die schrittweise Veränderung der Kommunikationswege erfolgt schließlich die Annäherung. „Der Einstieg geschieht meist über E-Mails, denn dabei haben die Betroffenen die volle Kontrolle darüber, in welcher Weise und in welchem Zeitrahmen sie reagieren möchten. Gegenstand und Niveau des Lehrstoffes bemessen sich ausschließlich an dem Ziel, eine positive Selbstwerterfahrung zu provozieren, Vertrauen zu sich und dem Therapeuten aufzubauen“, erläutert der studierte Psychologe und Pädagoge. TOIS lehnt sich dabei an die virtuelle Angsttherapie an, bei der Personen über einen bestimmten Zeitraum näher an die sie ängstigende Situation herangeführt werden und bei Bedarf auch wieder einen Schritt zurücktreten können. In diesem Fall bedeutet es, schulbezogene Situationen zu simulieren. Es findet eine Unterrichtssimulation statt, bei der beispielsweise die Stundenlänge, Pausen, Pausenbrote und ein Stundenplan fester Bestandteil sind.
Lehrkräfte an Schulen oder sozialpädagogische Fachkräfte in Schulverweigererprojekten sind demgegenüber in ihrer Methodenauswahl immer oder zum Teil von einem Bildungsauftrag bestimmt. Darin sieht der Projektleiter die Krux zwischen den Ansprüchen der Betroffenen und jenen der Akteure des Bildungssystems oder sozialpädagogischer Projekte: „Dass ein konkreter Bildungsauftrag bei Kindern mit schweren psychischen Störungen nicht funktioniert, ist die eine Seite. Dabei geht es um konkrete Inhalte, Unterrichtsgeschwindigkeit sowie Unterrichtsmethoden und Unterrichtsaufbau. Eine andere Seite ist die heilige Kuh der Pädagogik: die Beziehungsarbeit. Unbestritten sind Beziehungen der Mittelpunkt aller pädagogischen Arbeit, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die in Schwierigkeiten sind. Aber was, wenn Beziehungsauffassungen grundlegend verschieden sind, über Jahre Beziehungsangebote beidseitig gescheitert sind? Dann sollte nicht immer mehr Öl ins Feuer gegossen werden. Bei TOIS machen wir vorübergehend Schluss mit dem gewohnten Beziehungsangebot. Denn natürlich ist das Angebot, mal keinen von den doofen Erwachsenen zu sehen, auch ein Beziehungsangebot. Und das ist es erst recht unter dem Gesichtspunkt des Zieles: nämlich der Fähigkeit, wieder sozial interagieren zu können.“
Pädagogische Ausbildung weiterentwickeln
TOIS sah sich mit diesem Vorgehen schon mehrfach Kritik ausgesetzt. Auf der anderen Seite sprechen die guten Projektergebnisse für sich. Das Fundament dafür bildet die Kombination von psychologischen und sozialpädagogischen Erkenntnissen. Die Ausbildung von Fachkräften für die Jugendhilfe müsste entsprechend interdisziplinär weiterentwickelt werden, um Personengruppen wie jene bei TOIS besser unterstützen zu können, meint Paul Wiener und verweist auf einen neuen Studiengang an der Universität Saarbrücken. Zudem würden ähnliche Ansätze bereits seit den 1960er Jahren diskutiert. „Wir sind keine Heilsbringer. In universitären Kreisen ist der Ansatz seit mehr als 50 Jahren bekannt. Umso mehr verwundert es, dass die Pädagogik all die Jahre so hartnäckig widerstehen konnte“, sagt Paul Wiener.
Schülerinnen und Schüler wie Robert profitieren bei TOIS bereits von diesem fächerübergreifenden Ansatz. Nach sechs Monaten ist Robert wieder in seiner alten Klasse. Seine Lehrerinnen und Lehrer wurden schon während seiner Zeit im Projekt mit eingebunden und können auf seine speziellen Bedürfnisse besser eingehen. Robert selbst hat gelernt, wie er mit an ihn gestellten Erwartungen besser umgeht und erkennt rechtzeitig, wann es ihm zu viel wird.
Lesen Sie den gesamten Artikel in unserem Verbandsmagazin anspiel. 1/2017
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