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Kann der Rollstuhl da vorne bitte mal zur Seite gehen?

Eine junge Frau fährt mit ihrem Rollstuhl durch Menschenmassen auf einem Weihnachtsmarkt. (Foto: Andy Weiland/ Gesellschaftsbilder.de)

Nein - natürlich ist es nicht immer schlecht, wenn plötzlich irgendwo eine Barriere auftaucht und es nicht mehr weiter geht. Als beispielsweise die Elbe ihr Flussbett verließ, um sich auf den Weg in die Straßen und Häuser zu machen, da war es gut, dass da jemand plötzlich Sandsäcke aufstapelte und der Elbe Einhalt gebot. Und dass eine Partei, wenn sie denn in den Bundestag einziehen will, erst einmal die Fünf-Prozent-Hürde überwinden muss, hat auch seine Vorteile.

Es kommt immer auf den Kontext an, in dem uns plötzlich eine Barriere begegnet: Die geschlossene Bahnschranke ist da durchaus anders zu bewerten als eine Treppe zum Fahrstuhl. Solange Barrieren Gefahren ausgrenzen, abwehren und aufhalten sollen, ist sicher nichts gegen Barrieren zu sagen. Wenn sie aber Menschen ausgrenzen, abwehren und aufhalten, dann sieht die Sache schon anders aus.

In der Regel stoßen Betroffene aus zwei Gründen auf ausgrenzende, abwehrende und aufhaltende Barrieren: Da ist zu einem der Vorsatz und da ist zum anderen die Gleichgültigkeit. Wenn wir uns als Kinder in Gegenwart der Eltern unterhielten und nicht wollten, dass die Eltern mitbekommen, worüber wir sprachen, so redeten wir in einer eigenen Kunstsprache, die wir Löffelsprache nannten. Solcherlei Formen bewusster Ausgrenzung dürften wohl heute eher die Ausnahme sein. Schwieriger ist es da schon mit Barrieren, die aufgrund von Gedankenlosigkeit Menschen ausgrenzen. Ein Klassiker gewissermaßen ist da der interessante Powerpoint-Vortrag vor Menschen mit Sehbehinderung bzw. Blindheit.

Eine neue Perspektive einnehmen

Wenn es um den Abbau von Barrieren geht, dann braucht es eine Kultur der Achtsamkeit und des Interesses statt der Gleichgültigkeit. Neudeutsch wird das auch gern mit „Bewusstseinsbildung“ umschrieben, aber so ganz ohne Sinn sind die alten Begriffe ja auch nicht.

Was es ebenso braucht, das ist der Blick auf diejenigen unter uns, die den größten Unterstützungsbedarf haben. Wenn alles so ausgestaltet ist, dass sie teilhaben können, dann können alle anderen, die auf weniger Unterstützung angewiesen sind, auch teilhaben.

Damit ist nicht nur der der Blick auf eine konkrete Person verbunden, sondern das bedeutet auch, eine neue gesellschaftliche Perspektive einzunehmen. Eine Perspektive, die anerkennt, dass ein gelingendes Leben aus sich selbst heraus nicht möglich ist. Wir waren, wir sind und wir werden immer wechselseitig voneinander abhängig sein.

Eine Wendeltreppe in ein Haus einzubauen bedeutet, genau diesen Umstand zu leugnen. So haben wir über die Jahre unsere Illusionen über uns in Stein gehauen und in Beton gegossen und um uns herum eine Welt (auf)gebaut, die wir selbst nur temporär nutzen können, weil sie Gesundheit voraussetzt und aus der wir uns, wenn der Bedarf an Hilfe eine bestimmte Intensität übersteigt, schicksalsergeben verabschieden, um in eine zweite, in eine Sonderwelt, zu wechseln. Das ist nicht wirklich clever, entsteht aber, wenn man sich für unsterblich, unverwundbar und unschlagbar hält. Und auch nicht wirklich clever ist es, zu glauben, dass diese unsere selbst gewählte Art zu leben, nicht veränderbar wäre. Da geht noch was.

Ja, und wenn alles Ausgrenzende fehlt und es keine Sonderwelten (mehr) gibt, dann haben wir das, was gern mit dem Begriff der „inklusiven Gesellschaft“ umschrieben wird. Insofern handelt es sich bei dem Begriff der Inklusion um weit mehr als einen Fachbegriff aus dem Bereich der Sozialarbeit. Strenggenommen handelt es sich um eine Vision des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und jeder Abbau von Ausgrenzung und jeder Verzicht auf Wegfall von Besonderung kommt diesem Ziel der inklusiven Gesellschaft näher.

Inklusion als Vision des Zusammenlebens

So gesehen ist „Bewusstseinsbildung“ weit mehr als eine Fachaufgabe, die zwischen 08:00 Uhr und 16:00 Uhr von Sozialprofis zu bearbeiten ist. Damit sich neues Bewusstsein bilden kann, sind nicht selten auch Denkbarrieren im Kopf zu überwinden. Aber der ja zum Glück deshalb rund ist, damit das Denken seine Richtung wechseln kann.

Das eigene Handeln darf bei der Betrachtung von Barrieren nicht aus dem Blick geraten. Ich bin froh, dass der Paritätische sich des Öfteren an die eigene Nase fasst und die dabei gewonnen Erkenntnisse in die Arbeit einfließen oder sich in den Diskussionen widerspiegeln. Denn was wir beim Abbau von Barrieren, dem Setzen von Grenzen und dem Ermöglichen von Teilhabe ganz bestimmt nicht brauchen, sind Denkverbote.


Der Autor: Roland Frickenhaus ist Referent des Paritätischen Sachsen für Soziale Teilhabe. Seit über 37 Jahren arbeitet er mit Menschen mit Behinderung und sagt: „Barrierefreiheit betrifft uns alle. Niemand sollte denken, dass es für einen selbst keine Barrieren gibt. Das ist ein fataler Trugschluss.“

Kontakt:
Tel.: 0351/ 491 66 35
E-Mail: roland.frickenhaus(at)parisax.de


Der Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe des Verbandsmagazins anspiel. zum Themenschwerpunkt 'Barrieren und Teilhabe'.