Eine Kindergartengruppe, eine Schulklasse oder eine Hortgruppe, in der eine wahrhaft friedliche Atmosphäre herrscht – ein illusorischer Gedanke? Keinesfalls. Sabine Schneider plädiert für eine offene Streitkultur als Fundament für Frieden zwischen Kindern.
„Das war aber nicht nett. So etwas sagt man nicht. Das ist unartig. Komm sei lieb. Gib die Schaufel zurück. Sag Entschuldigung. Sei ein lieber Junge. Hauen tut man nicht. Das ist böse. Lass das. Entschuldige dich. Sei nicht so laut. Seid nicht so wild. Vertragt euch wieder. Ist doch halb so schlimm. Leise. Still. So ist‘s gut. Schluss jetzt.“ - Viele Male habe ich erlebt, wie Konflikten auf diese Weise begegnet wurde. Dieser übliche Umgang mit Kindern erzeugt letztendlich aber mehr Spannung und Unfrieden statt Entspannung und Frieden. Es mag zwar erstmal still zwischen den Kindern scheinen, ist der Konflikt aber für sie nicht wirklich geklärt, wird er konstant im Untergrund schwelen.
Verschleppte Konflikte
Seit vielen Jahren bin ich im Bereich der Familienarbeit sowie der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen tätig. So oft habe ich beobachtet, wie Kinder, die einen Konflikt nicht wirklich klären konnten, diesen im Laufe des Tages unbewusst oder sogar bewusst weitertragen. „Zufällig“ wird ein Bein gestellt, aus dem Nichts heraus gezwickt, provoziert oder ein Glas Wasser auf den Schoß geschüttet. Manchmal sucht sich das verärgerte Kind auch unbewusst ein anderes Kind (das ursprünglich nicht in den Streit involviert war), welches dann die unterdrückte Ladung abbekommt. In jedem Fall sucht sich die Energie des ungelösten Konflikts ein Ventil, was erneut Unfrieden in die Gruppe hineinbringt. Ich nenne dieses Phänomen „verschleppte Konflikte“.
Der Alltag einer Kindergartengruppe, Hortgruppe oder einer Klassengemeinschaft ist voll von diesen „verschleppten Konflikten“. Es ist ein Trugschluss, dass ein Streit verschwindet, wenn man von ihm ablenkt oder mit einer angeordneten, dahergesagten Entschuldigung beschwichtigt. Der Einfluss, den ungelöste Konflikte, unausgedrückte Gefühle und unterdrückte Worte auf einzelne Kinder und Jugendliche und auf das gesamte Gruppenklima haben, wird völlig unterschätzt. Auswirkungen sind unter anderem Spannungen, Hänseleien, Gestichel, Sprüche unter der Gürtellinie, Zickenkriege, Geläster und Mobbing.
Sich dem Konflikt zuwenden
Seit vielen Jahren erarbeite ich einen reformpädagogischen Ansatz, zu dem auch ein ganzheitlicher Umgang mit Konfliktsituationen gehört. Dieser wird in unserer Einrichtung „Erdenkinder“ in Dresden täglich praktisch umgesetzt. Im Folgenden ein Beispiel:
Alle Kinder stehen in der Garderobe. Fertig angezogen soll es losgehen in die Natur. Plötzlich ein kleiner Aufschrei, dann ein dumpfes Poltern. Weinen. Ein böser Blick. Streit zwischen zwei Kindern. Was nun?
Die Erzieherin setzt sich auf den Boden. Sie gibt den Ausflug innerlich (erst einmal) auf. Flexibilität ist gefordert. Umgehend muss zunächst eine Zone frei von Zeitdruck geschaffen werden. Alle Kinder lassen sich also ebenfalls auf dem Boden nieder. Die beiden Kinder, die sich streiten, erhalten volle Aufmerksamkeit und Begleitung, ihren Konflikt zu klären. Beide dürfen und sollen sich dem Gegenüber ausdrücken. Hierbei erhalten sie Ermutigung und Unterstützung von der Erzieherin, zum Teil auch von den anderen Kindern. Der Streit wird von hinten her aufgerollt. Stück für Stück positionieren sich beide, zum Teil mit starken Gefühlsausdrücken, dem Einfordern von wahren Worten und von Blickkontakt. Es geht um echten Kontakt zwischen den beiden streitenden Kindern. Es geht um Begegnung. Dieser Prozess braucht Zeit und Geduld. Ein tiefes Einlassen, ein echtes Interesse von Seiten der Erzieherin, ein Ernstnehmen der Kinder und ihrer Empfindungen. Gleichzeitig eine wache Intuition, um die Gesamtsituation zu erfassen. Jedes Verhalten eines Kindes hat eine Ursache. Es geht darum, diese urteilsfrei zu ergründen. Jedes wahrhaftig ausgesprochene Wort führt zu einem tieferen Verständnis. Wenn sich beide Kinder in ihrem Verhalten erklärt und gegenseitig verstanden haben, kehrt Ruhe ein. Manchmal braucht es noch ein „Es tut mir leid“, manchmal nicht. Ein Kind sollte sich nur dann entschuldigen, wenn es dies auch wirklich so meint, ansonsten ist es eine leere Phrase. Wenn alles Wesentliche ausgedrückt ist, ist der Streit geklärt. Frieden stellt sich ein. Ein Frieden, den alle spüren können. Ist genügend Zeit geblieben, geht es in die Natur. Wenn nicht, wird sich neu orientiert und der Tagesfluss nimmt eine andere Richtung auf.
Ein solches Vorgehen setzt unmittelbar im Jetzt, am Leben an. Dabei ist wichtig, dass der Erwachsene eine begleitende, führende Rolle einnimmt, um die Kinder darin zu unterstützen, dass sie selbst den Konflikt austragen und sich in ihren Empfindungen ehrlich ausdrücken. Ein Konflikt, der auf diese Weise angegangen und geklärt wird, ist am Ende wirklich geklärt. Und dann ist auch wirklich alles gut. In unserem Kindergarten erleben wir dies täglich.
Wertvolles Lernfeld für alle
Bei solchen Klärungsprozessen dabei zu sein, ist für Kinder sehr lehrreich - selbst wenn sie gar nicht unmittelbar beteiligt sind. Sie lernen über das Vorbild des anderen Kindes, dass es möglich ist, sich ehrlich zu zeigen und auszudrücken, und machen die Erfahrung, darin gehört, gesehen und angenommen zu werden. Sie lernen, sich innerhalb einer Gruppe zu positionieren und vor anderen Kindern und Erwachsenen zu sich selbst, ihren Gefühlen und ihrer eigenen Meinung zu stehen. Sie machen die Erfahrung, dass sich ein Erwachsener wirklich für sie interessiert und sie in ihrem Anliegen und ihren Empfindungen ernst nimmt und wertschätzt. All dies befördert den inneren Wert und das Vertrauen in sich selbst. Genauso wie auch die Empathiefähigkeit, das Mitgefühl sowie die Fähigkeit, sich tiefer einlassen und zuhören zu können.
Wenn Kinder einer Gruppe darauf vertrauen können, dass ihre Konflikte ausgetragen werden dürfen und sie gegebenenfalls ernsthafte, faire Unterstützung durch den Erwachsenen erhalten, trägt dies sehr zu einem offenen, ehrlichen Miteinander bei. Davon profitieren nicht nur die Kinder, sondern auch die Erzieher*innen, die Pädagog*innen und die Lehrer*innen. Die gesamte Atmosphäre innerhalb der Gruppe wird leichter, transparenter, lebendiger und wahrhaftiger. Ein Gruppenklima, das sich lohnt!
Die Autorin: Sabine Schneider ist Vorstand im Erdenkinder Dresden e.V. der in der sächsischen Landeshauptstad einen Kindergarten und eine Kinderkrippe betreibt. Ansatz des Vereins ist es, Kindern eine ganzheitliche Begleitung und Förderung zu ermöglichen sowie die Emerald Pädagogik theoretisch und praktisch weiterzuentwickeln.
Infos zum Verein gibt es auf: www.erdenkinder-dresden.de
Der Artikel erschien zuerst in der März-Ausgabe 2022 unseres Verbandsmagagzins anspiel.