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Kommentar: Alles neu?

Eine junge Frau fährt mit ihrem Rollstuhl durch Menschenmassen auf einem Weihnachtsmarkt. (Foto: Andy Weiland/ Gesellschaftsbilder.de)

Das Bundesteilhabegesetz fordert in vielen Bereichen ein Umdenken. Zudem verunsichern noch offene Regelungen oder unklare Vorgaben die Leistungsanbieter. Simone Langhof ermutigt, dass neue Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen auch neue Chancen für Mitarbeiter*innen bedeuten.

Spätestens mit dem Beginn der Rahmenvertragsverhandlungen und der Gestaltung der Übergangsregelungen in Sachsen ist den letzten Beteiligten klar geworden, dass sich vor allem im Bereich gemeinschaftliches Wohnen ein Paradigmenwechsel vollzieht. Die bisherigen Bewohner*innen von vollstationären Wohnformen und Außenwohngruppen werden zu Mieter*innen, weil die Leistungen (Fachleistung, Leistungen zum Lebensunterhalt und Kosten der Unterkunft) nun getrennt werden. Sie können selbst entscheiden, von wem sie welche Leistung erhalten möchten.

Doch was bedeutet das für die Praxis? Was meinen Bewohner*innen und Fachkräfte dazu? Ein Umbruch wie der aktuelle verunsichert. Das ist normal. Bei Gesprächen in den verschiedensten Wohnformen begegnete mir das öfter. Aber auch neue Ideen und Gedanken konnte ich vernehmen.

Neues kann verunsichern, aber auch Türen öffnen

Abgesehen von den formellen Änderungen und neuen Begrifflichkeiten stellen sich viele Beschäftigte die Frage: Wie wird dann die persönliche Beziehung der Mitarbeiter*innen zu „ihren“ Bewohner*innen aussehen? Hier stehen ganz praktische Fragen im Raum. Darf ich die Zimmer der Mieter*innen betreten, beim Hausputz eingreifen oder gar „Kontrollen“ durchführen (Hygiene, Alkohol)? Dürfen Mieter*innen jetzt in ihrer Wohnung rauchen?

Alles Fragen, die das Leben in einer Einrichtung ganz schön auf den Kopf stellen können. Natürlich gibt es auch in Studenten- oder Senioren-WGs Regeln, die zu einem harmonischen Miteinander beitragen. Was aber ist mit Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht immer in der Lage sind, Regeln zu verstehen und sich an diese zu halten? Eben deshalb leben sie ja in besonderen Wohnformen. Wie kann Anleitung und Förderung zukünftig aussehen ohne die gestärkte Privatsphäre der Bewohner*innen zu verletzen? Es entstehen Spannungsfelder, die in der zuvor gelebten Praxis bisweilen eine untergeordnete Rolle spielten.

Das Spannungsfeld wird nicht kleiner, wenn die Klient*innen verstehen, dass sie ihr Wunsch- und Wahlrecht nutzen können und ihnen jederzeit neue Wege offen stehen. Das kann in Richtung eigene Wohnung gehen oder auch mit Ängsten verbunden sein, aus der vertrauten Wohnsituation (Wohnstätte) auszuziehen. Im Ergebnis ist von der Vereinsamung in der eigenen Wohnung bis zur gestärkten individuellen Lebensgestaltung im eigenen Lebensraum alles möglich.

Egal aus welcher Sichtweise man die neuen Möglichkeiten betrachtet: Es wird nicht einfach, aber spannend. Immerhin ist der Rahmenvertrag im August 2019 unterzeichnet worden. Die genauen Regelungen zu den ambulanten Angeboten und den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen stehen aber noch aus. Neu ist zudem der Integrierte Teilhabeplan Sachsen (ITP), der seit März dieses Jahres zur Feststellung von Hilfebedarfen im Rahmen des Gesamtplanverfahrens dient. Ganz schön viele Neuerungen, die immer auch mit  Fragezeichen versehen sind.

Rückbesinnung auf bewährte Ansätze

Okay, es gibt kein Universalrezept mit allen Antworten ohne Risiken und Nebenwirkungen. Aber es gibt ein paar Betrachtungsweisen, die Mitarbeiter*innen in besonderen Wohnformen helfen können, trotz der notwendigen strukturierten Abläufe und Ordnungen in gemeinschaftlichen Wohnformen eine private Lebenswelt zu bieten.

Der ITP kann da ein guter Kompass sein, um durch die vielen neuen Begrifflichkeiten, die Ansprüche der Klient*innen und die neuen Sichtweisen hindurch zum Ziel zu finden. Denn eins bleibt für die Mitarbeitenden unverändert: weiterhin für Menschen mit Behinderung ein vertraute Begleitung und gute Förderung zu sein. Da passt der Inhalt des ITP mit seinen Grundlagen des bio-psycho-sozialen Modells recht gut zu den Grundlagen der Lebensweltbezogenen Behindertenarbeit, wie sie beispielsweise von Georg Theunissen formuliert wurde. Der Ansatz kann Beschäftigten in der Vielfalt der subjektiven Lebenswelten und Lebensbedingungen als Leitfaden dienen.

Wir sollten uns also jener Grundlagen besinnen, denen wir schon in Ausbildung oder Studium begegnet sind. Erinnern sie sich an die Darstellung der vier Lebensräume nach Urie Bronfenbrenner (Mikrosystem, Mesosystem, Exosystem und Makrosystem)? Sie hilft, Bedürfnisse der Klient*innen wahrzunehmen sowie auf diese einzugehen. Ebenso können die Leitprinzipien der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, wie sie Klaus Grunwald und Hans Thiersch formulierten (Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung, Respekt und Vertrauen etc.), den Mitarbeiter*innen bei der Gratwanderung zwischen ihrem Auftrag zur Anleitung, Förderung und Betreuung einerseits und dem Recht der Klient*innen auf Privatsphäre sowie deren persönlicher Freiheit andererseits als Orientierung dienen.

Mut, eigene Wege zu gehen

Der ITP ist vor diesem Hintergrund ein passendes Instrument, denn er basiert ebenfalls auf einem individuellen Ansatz. Er clustert in die Bereiche Lernen und Wissensanwendung, Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (der Person), Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, Häusliches Leben, Interpersonelle Beziehungen, Bedeutende Lebensbereiche und Gemeinschafts-, Soziales- sowie Staatsbürgerliches Leben. Das ist nicht so weit entfernt von den vier Lebensräumen nach Bronfenbrenner. Manchmal bietet somit auch die Besinnung auf gute alte Sozialarbeit eine neue, bzw. geänderte Sichtweise.

Bei allen Änderungen und Neuerungen sollten wir uns auf das Wesentliche besinnen. Was das ist, lässt sich gemeinsam mit den Klient*innen herausfinden. Einen möglichen Leitfaden haben sie ja. Ich denke, wenn Klient*innen neue Wege beschreiten können und wollen, sollten Begleiter*innen und Mitarbeiter*innen es ihnen gleich tun.

Nur Mut. Nicht alles, aber vieles ist möglich. Uns seien wir mal ehrlich: Die Grundvoraussetzung - und das nicht erst seit der Einführung des BTHG -  sind immer die persönliche Wertschätzung und der Respekt vor den Menschen und ihrer Individualität.


Zur Autorin: Simone Langhof ist Fachreferentin Teilhabe des Paritätischen Sachsen und arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit Menschen mit Behinderungen.

Kontakt:
Simone Langhof, Referentin Teilhabe
Tel.: 0351/ 828 71 150
E-Mail: simone.langhof(at)parisax.de