Spätestens seit dem Landtagswahlkampf 2024 ist das verpflichtende Vorschuljahr für Sachsen mehr als nur die Idee konservativer Bildungspolitiker*innen. Man würde dafür sogar nicht unerhebliche Mittel in die Hand nehmen. Nicole Lawrenz, Referentin für Bildung, kommentiert, warum das Geld in den vorhandenen Strukturen der frühkindlichen Bildung besser angelegt wäre.
Im Endspurt wurde schon so manches Rennen entschieden. Das Erstaunen ist oft groß, wenn einzelne Athlet*innen zum Ende eines Wettkampfes das Feld von hinten aufrollen. Plötzlich werden Energiereserven freigesetzt, die im besten Fall zum Sieg tragen. Selbst wenn unser eigenes Erfahrungswissen lediglich aus dem Schulsport stammt, wissen wir: Das Geheimnis liegt darin, sich die Kräfte einzuteilen. Und etwas anderes ist ebenfalls klar: Man muss sich auf das gesamte Rennen vorbereiten und kann nicht nur für die letzte Runde trainieren.
Besser von der Kita in die Schule
Was das jetzt mit der Diskussion über ein verpflichtendes Vorschuljahr zu tun hat? Die Idee eines verpflichtenden Vorschuljahres ist maßgeblich vom Gedanken getragen, alle Kinder besser auf die Schule vorzubereiten. Kinder sollten bei ihrer Einschulung grundlegende Kompetenzen besitzen, die es ihnen ermöglichen, in der neuen Umgebung und mit an sie gestellten Anforderungen zurechtzukommen. Dazu gehören soziale, kommunikative und somatische Fähigkeiten ebenso wie ein grundlegendes Verständnis für die eigene Umwelt. Der Trugschluss ist allerdings, dass dies alles allein im letzten Kita-Jahr - also im Endspurt - zu bewältigen sei.
Die frühkindliche Bildung in Sachsens Krippen, Kindergärten und Horten wird von hochqualifizierten Fachkräften getragen. Hier ist Sachsen auf Spitzenniveau. Das Problem ist jedoch, dass diese Qualität nur bedingt umgesetzt werden kann. So ist jede*r Erzieher*in im Kindergarten theoretisch für 12 Kinder zuständig. Dafür müsste der Arbeitstag des pädagogischen Personals allerdings mindestens 9 Stunden umfassen und alle müssten nahezu ganzjährig anwesend sein. Schon hier klafft eine Lücke. Selbst bei bester Qualifikation sind Bildungsarbeit und individueller Förderung unter diesen Umständen Grenzen gesetzt, denn in der Praxis sieht sich eine pädagogische Fachkraft oft deutlich mehr als den besagten 12 Kindern gegenüber. Vor diesem Hintergrund steht die Forderung nach einem besseren Personalschlüssel schon lange im Raum - diesbezüglich liegt Sachsen im Bundesvergleich auf den letzten Plätzen.
Potentiale pädagogischer Fachkräfte endlich nutzen
Obwohl es in den letzten Jahren kleine Verbesserungen gab, blieben die Effekte eher übersichtlich. Zudem haben sich die Bedarfe der Kinder verändert. Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsaufwand sind gestiegen. Die Ursachen sind vielfältig, aber gesellschaftliche Transformationsprozesse dürften dabei eine größere Rolle spielen. Die Realität hat die kleinen Schritte somit ausgebootet. Dies wird auch am Übergang von der Kita zur Schule spürbar.
Das verpflichtende Vorschuljahr soll an dieser Stelle nun den Turbo zünden. Doch wie soll das bitte funktionieren? Kinder brauchen für ihre soziale, emotionale, motorische und kognitive Entwicklung nicht nur ausreichend Anregungen, sondern auch langfristig stabile Beziehungen, Geborgenheit, Wertschätzung und Unterstützung in der Kita – und zwar von Anfang an. Kontinuierliche, gelingende Partnerschaften mit den Eltern sind genauso wichtig und fördern den Bildungserfolg zusätzlich. Pädagogische Fachkräfte brauchen für all dies Zeit.
Mehr Wirkung durch direkte Stärkung der frühkindlichen Bildung
Laut Medienberichten soll das Vorschuljahr rund 250 Mio. Euro pro Jahr kosten. Irritiert reiben sich Erzieher*innen die Augen, da doch gerade die schwierige Finanzierung immer ein Hauptargument gegen weitreichendere Verbesserungen der Qualität in der Kindertagesbetreuung war. Warum wird der Betrag nicht in das bestehende System investiert, um frühkindliche Bildung insgesamt zu stärken und so die Grundlagen für künftige Bildungserfolge zu legen? Mit zusätzlichen 250 Mio. Euro ließe sich beispielsweise das Fachkraft-Kind-Verhältnis im Kindergarten von 1 zu 12 auf 1 zu 10 anheben. Auch für die Vor- und Nachbereitung der Bildungsarbeit sowie die Elternarbeit wäre mehr Zeit verfügbar. Selbst die dringend nötige Verbesserung der Personalausstattung für Leitung wäre nun endlich möglich.
Das Argument, dass man alle Kinder im Jahr vor dem Schuleintritt erreichen möchte, ist ebenfalls schwach. Die Betreuungsquote der 3- bis 6-Jährigen liegt laut Statistischem Bundesamt in Sachsen bei 93,8 Prozent (Stand März 2024), im letzten Kita-Jahr vermutlich noch höher. Das sind bundesweite Spitzenwerte. Es sind demzufolge nur sehr wenige Kinder, die aus verschiedenen Gründen vor der Schule keinen Kindergarten besuchen. Hier sollte lieber auf die konkreten Gründe geschaut werden, um beispielsweise mit niedrigschwelligen familiennahen Angeboten passgenaue Zugänge zur Kita zu schaffen.
Wenn das Vorschuljahr verpflichtend wird, müsste zudem für Familien Kostenfreiheit gewährleistet sein. In der aktuellen Diskussion ist nun aber die Rede davon, dass lediglich fünf Stunden Betreuung pro Tag verbindlich sein sollen. Abgesehen von pädagogischen Fragen und der praktischen Umsetzung vor Ort bleibt zu vermuten, dass diese Kleinteiligkeit mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden ist. Ein Gutteil des eingesetzten Geldes verschwände wahrscheinlich in neuer - eigentlich unnötiger - Bürokratie.
Die Idee eines verpflichtenden Vorschuljahres scheint ungeeignet, die Schulfähigkeit von Vorschulkindern zu verbessern. Weit größer wäre der Effekt, die 250 Mio. Euro flössen ins gesamte Kita-Budget. Eine schrittweise Personalschlüsselanhebung beginnend zum Beispiel in Kindergarten und Hort ermöglicht nicht nur bessere Bildungschancen von Vorschulkindern, sondern auch eine kontinuierliche Vorbereitung und Stärkung der Einmündung in die Schuleingangsphase.
Kinder ganzheitlich fördern
Familien und Kita legen gemeinsam den Grundstein für künftige Lernerfolge. Konkrete Lerninhalte sind in den ersten Lebensjahren dabei weniger entscheidend. Vielmehr müssen Kinder in dieser Lebensphase ein Instrumentarium entwickeln, um sich die Welt zu erschließen. Dazu gehören beispielsweise sozial-emotionale Kompetenzen, Sprachkompetenz, exploratives Verhalten sowie Resilienzvermögen. Jedes Kind hat hierfür ein eigenes Tempo und einen eigenen Weg. Es braucht Erwachsene, die dies erkennen und fördern.
Wer also auf einen zünftigen Endspurt hinarbeitet, muss immer das gesamte Rennen im Blick haben. Dafür sind ein gutes Trainerteam - mit Gespür für die Stärken und Schwächen der Athlet*innen - sowie eine angemessene Ausstattung nötig. Bei dem einen ist es der starke Antritt, der zum Sieg verhilft, bei der anderen das Durchhaltevermögen oder die Geschicklichkeit. Das gilt es herauszufinden, um erfolgreich zum Ziel zu kommen. Denn Bildung ist kein Sprint, sondern ein Langstreckenlauf.
Kontakt:
Nicole Lawrenz (Referentin Bildung)
Tel.: 0351 - 828 71 152
E-Mail: nicole.boerner(at)parisax.de
Der Kommentar erschien zuerst in der Ausgabe März 2025 des Verbandsmagazins anspiel.
