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Kommentar: Tariftreuepflicht in der Pflege oder ‚Wenn gute Ideen auf die Realität treffen‘

Symbolbild: Pflegekraft hält Hand einer Seniorin. (Foto: Photographee.eu/ Fotolia.com)

Seit September gilt die sogenannte Tariftreuepflicht für Pflege- und Betreuungskräfte. Was gut klingt, scheint in der Praxis allerdings auf Hürden zu treffen, die so nicht erwartet wurden, stellt Andrea Wetzel in ihrem Kommentar fest.

Nun ist sie da, die sogenannte Tariftreuepflicht für Pflege- und Betreuungskräfte. Seit September müssen sie mindestens in Höhe eines anerkannten Tarifvertrags oder des sogenannten regional üblichen Durchschnitts bezahlt werden. Trägern drohen harte Konsequenzen, wenn sie sich nicht daran halten.

„Endlich!“, möchte man meinen, da die Bezahlung im Pflegebereich oft kritisiert wurde. In vielen Einrichtungen und Diensten können sich die Beschäftigten also über mehr in der Lohntüte freuen. Nachdem die Vorbereitungen recht holprig waren und die genauen Bedingungen im laufenden Prozess noch nachjustiert wurden, sollte zum Start im September alles klar sein und alle sollten sich über diesen wichtigen Schritt freuen.

Doch die meisten, die mehr oder weniger direkt von dieser Tariftreue betroffen sind, freuen sich nicht so sehr. Warum?

Da ist zum Beispiel Lisa M. Als Betreuungskraft hatte sie vor der Tariftreue einen geringeren Stundenlohn als jetzt – dank steuerfreier Vergünstigungen und Gutscheine kam am Ende jedoch deutlich mehr Geld heraus als jetzt. Ist das dann wirklich eine Verbesserung?

Peter H. ist Pflegefachkraft - und ja: Er freut sich. Bei ihm stehen jetzt 20 Prozent mehr auf dem Gehaltszettel. Ist das die Möglichkeit, auf die er immer gewartet hat? Er überlegt sich, seine Arbeitszeit zu reduzieren, denn er leidet unter der Arbeitsbelastung. Nun könnte er sich bei selbem Gehalt einen freien Tag mehr in der Woche leisten. Sein Arbeitgeber freut sich darüber aber nicht, da die Personaldecke ohnehin schon zu dünn ist.

Und Pflegedienstleiterin Julia K. hat jetzt noch mehr Probleme, den Dienstplan zu schreiben, da immer mehr Kolleg*innen es wie Peter H. halten und weniger Stunden arbeiten wollen. Für sie selbst ändert sich nichts - die Tariftreue erfasst sie nicht.

Auch die Hauswirtschafterin Susanne K. bleibt von der Tariftreuepflicht unberührt. Sie darf sich dennoch freuen, da sie durch die Erhöhung des Mindestlohns ab Oktober mehr Geld bekommt. Ihre Lohnsteigerung ist allerdings weitaus geringer als bei den Kolleg*innen, mit denen sie täglich im Wohnbereich zusammenarbeitet.

Einrichtungsleiter Christian B. versucht dagegen, den Bewohner*innen und ihren Angehörigen die Erhöhung ihrer Eigenanteile zu erklären. Warum mit Einführung der Tariftreuepflicht keine Anpassung der Leistungsbeträge der Pflegekassen erfolgt ist, versteht auch er nicht.

Geschäftsführerin Marianne D. wiederum muss ihrem Betriebsrat begründen, warum die Einführung eines Tarifs aktuell schwierig ist. Denn eine solche würde von den Kostenträgern nicht als ausreichend anerkannt werden, um die laufende Vereinbarung entsprechend anzupassen. Sie würde bis zur nächsten regulären Verhandlung auf den zusätzlichen Personalkosten sitzen bleiben. Gleichzeitig muss sie auch an die anderen Bereiche denken, denn der Tarif gilt dann auch für die Mitarbeiter*innen in der Kita und der Beratungsstelle und dort sieht die Refinanzierung nochmal anders aus. Eine gestaffelte Einführung des Tarifs innerhalb eines Unternehmens ist aber vom Gesetzgeber nicht vorgesehen.

Und um das Bild abzurunden: Als Vorständin eines kleinen Vereins prüft Stefanie S. gerade, ob sie ihren Pflegedienst abwickeln muss. Die vereinbarten Preissteigerungen haben kaum gereicht, die Gehaltserhöhungen abzudecken. Jetzt auch noch die gestiegenen Preise für Energie und Benzin zu bezahlen, ist schlechterdings nicht möglich. Die immer wieder in Aussicht gestellten finanziellen Erleichterungen kommen für ihren Pflegedienst zu spät.

Eins scheint demnach sicher zu sein: Bis es mangels Tariftreue zur Kündigung von Versorgungsverträgen kommt, sind die ersten Pflegedienste schon von sich aus vom Netz gegangen.

Insgesamt scheinen sich in der Tariftreue einige Pferdefüße versteckt zu haben, denen vorher niemand Beachtung geschenkt hat. Bedenkt man nun, dass die Richtlinien zum Nachweis der Tariftreue noch nicht einmal veröffentlicht worden sind, schwant nichts Gutes.

Zeit, zu handeln: Verbesserungen in der Pflege müssen ganzheitlich und über das Gehalt der Angestellten hinaus gedacht werden und mit einer Entlastung der Pflegebedürftigen einhergehen.

Das heißt, die Eigenanteile der Pflegebedürftigen müssen dringend begrenzt werden, damit sämtliche Kostenerhöhungen nicht zu deren Lasten gehen. Dann könnten auch die Kostenträger offener dafür sein, laufende Vereinbarung vor Ende der Laufzeit anzupassen. Und die heutigen Pflegekräfte wären sicher bereit, auf sofortiges Geld zu verzichten, wenn sie sicher sein könnten, dass sie etwaige eigene Pflegebedürftigkeit im Falle des Falles von ihrer Rente bezahlen können.

Vor allem muss sich aber die Arbeitssituation der Pflegekräfte verbessern – denn Geld allein motiviert eben nicht.

Und auch, wenn es eilt: Bitte alle Reformen wohldurchdacht und mit einem Zeithorizont, der es allen Beteiligten ermöglicht, ihren Anteil fristgerecht umzusetzen. Und der nicht nur die Träger unter Druck setzt.


Kontakt:

Andrea Wetzel (Referentin Entgelte)

Tel.: 0351 - 828 71 147
e-Mail: andrea.wetzel(at)parisax.de