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Kooperation: Fachberatung für queere Geflüchtete in Sachsen

Seit 2016 kooperieren drei sächsische Träger psychosozialer Beratungsangebote für geflüchtete Menschen miteinander. Nun hoben sie ihre Zusammenarbeit auf eine neue Stufe und schufen den Projektverbund ‚Fachberatung für queere Geflüchtete in Sachsen‘.

Fluchterfahrung prägt die Betroffenen ein Leben lang. Fluchtgründe, die Erlebnisse während der Flucht, aber auch die Ankunft an einem vermeintlich sicheren Ort hinterlassen nie zu tilgende Spuren. Denn auch letztere – die Ankunft an einem Zufluchtsort wie beispielsweise Sachsen – hält Unsicherheiten und ständig neue Herausforderungen bereit. Der psychische Druck lässt selbst hier nur bedingt nach. Psychosoziale Beratungsangebote bilden daher ein wichtiges Netz, um Geflüchtete aufzufangen, ihnen Orientierung zu bieten und sie auf dem Weg in ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu unterstützen.

Hilfe auch bei örtlichem Wechsel nicht abreißen lassen

Um den Bedarfen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, inter, asexuellen und queeren (lsbtiaq* oder kurz queeren) Asylsuchenden gerecht zu werden, halten der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Sachsen e.V., der RosaLinde Leipzig e.V. und der Gerede e.V. spezielle psychosoziale Beratungsprojekte für genau diese Zielgruppen vor. Während der LSVD vor allem Menschen in Chemnitz, Süd-/West- und Mittelsachsen berät, ist der RosaLinde in Leipzig sowie dem nördlichen Sachsen und Gerede e.V. in Dresden und Ostsachsen aktiv. „Alle drei Vereine arbeiten bereits seit 2016 miteinander“, berichtet Carolin Wiegand, Projektverantwortliche beim Gerede e.V., im Gespräch mit anspiel. „Die hier ankommenden Menschen unterliegen zuerst der Zuständigkeit des Freistaates und werden im weiteren Verfahren auf die Kommunen verteilt. Da kommt es nicht selten vor, dass jemand zum Beispiel zuerst in der Gemeinschaftsunterkunft in Dresden lebt und sich bei uns Hilfe sucht, dann aber beispielsweise in die kommunale Zuständigkeit des Erzgebirgskreises verwiesen wird. Um den Beratungsprozess nicht abreißen zu lassen, stimmen wir uns in diesem Fall mit den Kolleg*innen des LSVD in Chemnitz ab, die dann die Begleitung fortsetzen können.“

Arbeitsweisen aufeinander abstimmen

Die trägerübergreifende Zusammenarbeit ist über die Jahre immer enger geworden. So verständigte man sich unter anderem auf gemeinsame Standards für die Beratungspraxis, damit die Geflüchteten trotz des örtlichen und des Trägerwechsels keine Lücke in der Begleitung erfahren. Die so erzeugte Vergleichbarkeit der Angebote spielt zudem in der Darstellung gegenüber Fördermittelgebern eine wichtige Rolle. Des Weiteren sind der Wissensaustausch oder der Rückgriff auf das Netzwerk des jeweils anderen bei allen drei Trägern zu wichtigen Erfolgsfaktoren für die eigene Arbeit geworden. „Ich denke da zum Beispiel an Sprachmittler*innen, die wir in den verschiedenen Beratungskontexten einsetzen. Insbesondere bei seltener gesprochenen Sprachen konnten wir uns mehrfach gegenseitig mit Kontakten aushelfen. Oder auch der Wissenstransfer im Umgang mit Behörden hat uns – und damit auch den Beratungssuchenden - schon oft geholfen“, unterstreicht Annelie Neumann, Projektverantwortliche beim LSVD.

Transparenz und Dialog als Arbeitsgrundlage

Neben dem direkten Kontakt der Berater*innen untereinander, wenn es um konkrete Einzelfälle geht, fanden in dieser Phase auch regelmäßige Treffen statt. Vierteljährlich kamen alle Berater*innen der drei Träger zu einer gemeinsamen Klausur zusammen. Kollegiale Beratung, Weiterbildung und die Öffnung der eigenen Netzwerke für die jeweils anderen gehörten fest dazu. Eine entscheidende Grundlage ist für alle Beteiligten dabei bis heute die Transparenz des eigenen Handelns. „So muss nur ein Träger den Fehler machen“, meint Carolin Wigand scherzhaft und spricht indirekt einen weiteren wichtigen Aspekt der Zusammenarbeit an: die Fehlerfreundlichkeit. Alle drei Träger verfügen zwar über qualifizierte Fachkräfte, die sich zudem mit den regionalen Besonderheiten auskennen. Alle stehen jedoch immer wieder vor neuen Hürden. „Die eigene Fachlichkeit und der Erfahrungskontext bieten viele Ansätze, aber nicht immer die passende Lösung. Da kommt es auch mal vor, dass etwas nicht klappt. Dies offen mit den anderen zu besprechen, hilft in diesem einen Fall vielleicht nicht unbedingt weiter. Aber es ist für den künftigen Beratungsalltag dennoch förderlich“, ist Carolin Wigand überzeugt.

Zusammenarbeit qualifizieren

Mit Beginn des Jahres 2021 hoben die Träger ihre Kooperation dann auf eine neue Stufe und gründeten den Projektverbund ‚Fachberatung für queere Geflüchtete in Sachsen‘. Nun kann die Zusammenarbeit über Mittel der Richtlinie Integrative Maßnahmen weiterentwickelt werden. Bei allen drei Trägern gibt es jetzt Mitarbeiter*innen, die ein festes Kontingent ihrer Arbeitszeit für die gemeinsame Arbeit nutzen können. Sie bündeln die trägerspezifischen Themen  und speisen sie gezielt in den Austausch ein. Die vierteljährlichen Klausuren aller Berater*innen wurden durch feste wöchentliche Absprachen der jeweiligen Koordinator*innen ersetzt. Annelie Neumann erklärt dazu: „Abstimmungen und Bedarfsermittlungen lassen sich so viel zeitnaher umsetzen. Die allgemeinen Klausuren waren wichtig, gingen jedoch immer zu Lasten der Beratung selbst. Selbstverständlich stehen die Berater*innen in spezifischen Fragen aber weiterhin im direkten Kontakt“.

Gemeinsam neue Ziele angehen

Seit Jahren erleben die Beschäftigten in ihrem Alltag immer wieder strukturell bedingte Diskriminierung gegenüber den geflüchteten Menschen. Diese sichtbar zu machen und an den geeigneten Stellen auf Veränderungen hinzuwirken, ist somit ein weiteres Ziel der Kooperation. Schlüssel dazu ist eine gemeinsame Dokumentation.

Carolin Wiegand beschreibt: „Die Erfahrungen der Geflüchteten zu dokumentieren und valide Daten zu erheben, war uns zuvor nur eingeschränkt möglich und erfolgte bei allen drei Trägern unterschiedlich. Eine unserer ersten Aufgaben war es daher, gemeinsame Indikatoren zu entwickeln, mit denen sich einerseits die Erfahrungen der Geflüchteten abbilden lassen und an denen andererseits deutlich wird, wo die Ursachen zu suchen sind.“ Bei ihren regelmäßigen Terminen sowie bei extra für das Thema angesetzten Treffen entwarfen die Koordinator*innen also einen Dokumentationsrahmen, der sowohl die Persönlichkeitsrechte der Geflüchteten respektiert, als auch für die Berater*innen im Arbeitsalltag zu bewältigen ist und verwertbare Aussagen liefert. Die ersten gemeinsamen Daten sowie deren Vorstellung bei Behörden machen Mut, auf dem richtigen Weg zu sein. Gleichwohl ist allen Beteiligten klar, dass die regelmäßige Evaluation des Instrumentes fester Bestandteil der gemeinsamen Arbeit bleiben wird.

Der Projektverbund brachte bereits in seiner ersten Phase als loser Zusammenschluss viele positive Effekte für die Beratungssuchenden und die Angestellten mit sich. Der 2021 unternommene Schritt bietet darüber hinaus auch die Chance, Impulse für den Abbau struktureller Hürden für geflüchtete Menschen zu setzen und damit beim Ankommen in Sachsen den Druck auf diese zu senken.


Nähere Informationen und die Ansprechpersonen des Projektverbundes finden Sie unter: https://sachsen.lsvd.de/lgbti-refugees/


Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe September 2021 unseres Verbandsmagazins anspiel. mit dem Themenschwerpunkt Kooperation. Jetzt einen Blick ins Heft werfen!