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Mitbestimmung - ein Menschenrecht

Michael Richter, Landesgeschäftsführer Paritätischer Sachsen

Michael Richter, Landesgeschäftsführer Paritätischer Sachsen

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Am 10. Dezember 1948, vor genau 70 Jahren, wurden erstmals in der Geschichte Rechte festgeschrieben, die für alle Menschen bedingungslos gelten sollten.

Die 30 Artikel der UN-Menschenrechtskonvention sind durchdrungen vom Grundsatz der Mitbestimmung. Ob Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder das Recht der freien Berufswahl -  immer steht das Individuum im Mittelpunkt, das über eine eigene Meinung verfügen und diese aktiv vertreten darf.

Die Präambel der Menschenrechtskonvention ist ein Manifest des internationalen Zusammenhalts und der zwischenmenschlichen Solidarität zugleich. Mir ist mit Ausnahme der Bergpredigt kein Text bekannt, der mich tiefer und unmittelbarer in meinen Haltungen beeinflusst hätte als diese fundamentalen acht Absätze.

Dabei – und das ist auch heute immer wieder bemerkenswert – ging es den Müttern und Vätern der Menschenrechtskonvention nicht um einen Akt der Barmherzigkeit oder des Mitgefühls. Die Erhebung der individuellen Freiheit in den Rang eines Völkerrechts war kein Akt der Mächtigen für die kleinen Leute, der reichen Staaten für die Entwicklungsländer oder der Starken für die Schwachen.

Die Motivation wird im zweiten Absatz der Präambel deutlich: „…da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt“.

Mitbestimmung ist folgerichtig auch ein zentraler Aspekt unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Und doch verkommt sie heute zu einer bloßen Begriffshülse, wenn man sie nicht mit Leben füllt.

Doch was bedeutet ‚mit Leben füllen‘ im Zusammenhang mit Mitbestimmung? Als Grundvoraussetzung wird gemeinhin die Bereitschaft gesehen, offen für die Bedürfnisse und die Meinung des jeweiligen Gegenübers zu sein. Gleichzeitig muss man die eigenen Sichtweisen und Prioritäten klar artikulieren können. Das mag im Freundeskreis, im Verein, in der Schule, auf der Arbeit oder an Orten gelingen, wo man es mit Erwachsenen oder mindestens Heranwachsenden zu tun hat. Aber funktioniert das auch bei Kindern? Funktioniert das auch bei Pflegebedürftigen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten?

Wenn ich auf mein eigenes Leben zurückschaue, sehe ich zahllose persönliche und berufliche Herausforderungen. Wie kommt es, dass ich diese bis zum heutigen Tag hinreichend bewältigen konnte? Die Antwort ist natürlich vielschichtig – da spielt die eigene Gesundheit eine wichtige Rolle. Auch Familie, Freunde und Weggefährt*innen, die mir geholfen und mich in entscheidenden Situationen gestützt haben. Kurz: Es sind wohl im Wesentlichen meine eigenen Problembewältigungsstrategien - in Verbindung mit der Hilfe durch andere Menschen.

Beides - persönliche Voraussetzungen genau wie die Offenheit, Hilfe anzunehmen - hat seinen Ursprung in der Kindheit, erprobt und bestärkt durch meine Sozialisation in der Jugend und im frühen Erwachsenalter. Da sehe ich vor meinem inneren Auge Menschen, die mich geprägt haben: meine Eltern, meine Frau, einige Lehrer, die Vikarin der Konfirmationszeit, Dozent*innen an meiner Hochschule, Vorgesetzte und Kolleg*innen in den verschiedenen Arbeitsstellen... Diese Menschen haben eines gemeinsam: Sie sind mir in der jeweiligen Lebensphase mit Wertschätzung auf Augenhöhe begegnet. Sie fragten nach meiner Meinung, haben mit mir gemeinsam Entscheidungen getroffen. Sie haben mir ehrliche, auch kritische Rückmeldung gegeben, waren ernsthaft an mir interessiert und haben mir das Gefühl gegeben, dass ich wichtig bin. Dass ich eine Rolle spielen darf in dieser Welt.

Neben den bekannten Faktoren wie Liebe, Geborgenheit, materielle Versorgung usw., die ein Kind gesund aufwachsen lassen, ist es doch ganz wesentlich auch die Erfahrung des Mitbestimmendürfens, die uns von klein auf stark macht und die Persönlichkeit prägt und festigt.

Und gleichzeitig ist es doch erstaunlich: Die häufigsten Konflikte erlebte ich im privaten wie im beruflichen Zusammenhang tatsächlich, wenn ich mich unzureichend beteiligt gefühlt habe oder ich meinerseits anderen Menschen nicht genügend Möglichkeit zur Mitbestimmung eingeräumt habe. Obwohl ich selbst sehr sensibel reagiere, wenn ich mich übergangen fühle, passiert mir genau das mit anderen Menschen regelmäßig selbst.

Die Folgen dieses Gefühls des Übergangenwerdens erleben wir dieser Tage bei jedem Blick in die sozialen Medien oder die Kommentare unter Artikeln im Internet. In sogenannter hatespeech scheint sich Bahn zu brechen, was anderorts vielleicht auf taube Ohren stieß. Insofern sehe ich die Beschimpfungen an diesen Stellen als eine Folge gescheiterter Beteiligung. Über Gründe dieses Scheiterns ließe sich trefflich streiten. Fest steht jedoch, dass immer mindestens zwei Seiten notwendig sind, um Mitbestimmung erfolgreich umzusetzen. Alle Prozessbeteiligten sind gefordert, sich mit Respekt einzubringen.

Mitbestimmung ist eine unverzichtbare Grundlage für unser tägliches Zusammenleben. Und gleichzeitig ein lebenslanges Lernfeld. Lasst uns offen und interessiert sein füreinander. Lasst uns einander mit Achtung und Wertschätzung begegnen. Lasst uns im Gespräch bleiben. Dann kann Mitbestimmung gelingen.


Zum Autor: Michael Richter ist seit 2013 Landesgeschäftsführer des Paritätischen Sachsen. Bevor der studierte Sozialarbeiter zum Landesverband kam, Arbeitete er mit Menschen mit Behinderung sowie mit straffälligen Jugendlichen.


Der Beitrag ist Aufmacher des Themenschwerpunkts Mitbestimmung in der aktuellen Ausgabe des Verbandsmagazins anspiel. des Paritätischen Sachsen. Mehr dazu erfahren Sie hier: anspiel. 1.2018