Soziale Organisationen sehen sich aktuell mit verschiedenen Veränderungen konfrontiert. Norbert Kunz, Geschäftsführer der social impact gGmbH, ermutigt in seinem Gastbeitrag, neue Wege zu gehen und mit neuen Partnern zu kooperieren.
Die Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege stellen das Rückgrat der sozialen Sicherheit und des sozialen Ausgleiches dar. Gesellschaftliche Megatrends wie beispielsweise der demografische Wandel, Digitalisierung und Mediatisierung, Individualisierung und Pluralisierung sowie die Globalisierung und deren Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme stellen soziale Organisationen vor enormen Veränderungsdruck. Hinzu kommt oftmals noch der finanzielle Druck, der sie zwingt, bestehende Leistungsangebote neu zu justieren, sie effizienter und effektiver auszurichten.
Viele Wohlfahrtseinrichtungen und Sozialunternehmen haben in den letzten 100 Jahren bewiesen, dass sie Expert*innen der schrittweisen Optimierung sind. Ihre Form der inkrementellen Innovation ist effektiv, da sie ihre Kund*innen genau kennen und darauf basierend die Produkte und Leistungen qualitativ weiterentwickeln.
Mehr als nur Innovation
Hinsichtlich der aktuellen Veränderungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Freie Wohlfahrtspflege wird eine auf Verbesserung und Optimierung vorhandener Leistungsprozesse ausgerichtete Innovationskultur jedoch nicht mehr ausreichen. Es bedarf nun disruptiver bzw. radikaler Innovationen, die als komplett neue Lösungsansätze auf den Plan treten. Die sogenannte Digitalisierung ist dabei nicht die Lösung, sondern ein Instrument, um die Herausforderungen zu bewältigen.
Wir müssen uns klar machen, dass sich die Rahmenbedingungen und Herausforderungen in allen Lebensbereichen in den nächsten 20 bis 30 Jahren so schnell und tiefgreifend verändern werden, wie noch nie in der Geschichte zuvor. Unsere Lebensbedingungen sind bereits heute geprägt von wachsender digitaler und medialer Beeinflussung, von einer zunehmenden Vernetzung auf lokaler, regionaler und globaler Ebene, aber auch – und vor allem – von einer größeren ökonomischen, ökologischen und sozialen Gefährdung unserer Lebenswirklichkeiten. Dabei stehen wir erst am Anfang eines gesellschaftlichen Wandels, der das bisher als sicher und beständig Angesehene in Frage stellen wird. Wir wissen nicht, wie die Welt von morgen aussehen wird. Was wir jedoch wissen, ist: Es wird mehr Möglichkeiten, aber auch mehr Risiken für jede*n Einzelne*n und für uns als gesamte Gemeinschaft geben.
Vor diesem Hintergrund haben lineare Lösungsmodelle keine Zukunft, da es vollkommen ungewiss ist, ob die Logik unserer heutigen Arbeitsgesellschaft fortbesteht und inwieweit die sozialen Finanzierungsbedingungen Bestand haben werden.
Sozialraum als Schlüssel
Im Feld der sozialen Dienstleistungen wird es vor allem darum gehen müssen, die sozialräumlichen Potenziale zu identifizieren, sie zu aktivieren und in das System der sozialen Leistungserbringung zu integrieren. Nicht nur die Souveränität der Nutzer*innen selbst, sondern auch deren Beziehung zur sozialen Umwelt muss gestärkt werden. Kollaboratives Handeln sowie das engere Zusammenwirken von Bürgergesellschaft und sozialwirtschaftlichen Unternehmen – unter Berücksichtigung der Möglichkeiten von privaten Unternehmen und öffentlicher Verwaltung – bieten einmal mehr Chancen für alle Beteiligten. Denn nur das Vernetzen von Kompetenzen und Leistungen unterschiedlicher Akteur*innen wird zu einem System führen, welches die erwünschte Versorgungssicherheit gewährleisten kann. Digitalisierung bietet technische Möglichkeiten, um diese Prozesse zu befördern. Die sozialwirtschaftlichen Organisationen müssen zu sozialen Knotenpunkten der Daseinsvorsorge und Teilhabe werden.
„Hic rhodus, hic salta“ – Zeig es hier und beweise, was du kannst. – So könnte das heutige Credo der Wohlfahrt heißen. Denn nun müssen die Einrichtungen beginnen, ihre standardisierten Formen der Leistungserbringung und das Verhältnis zwischen Hilfeberechtigten und Helfer*innen neu zu definieren.
Viele Leistungselemente sind durch Kostenträger vorgegeben und ein Abweichen von der vertraglich vereinbarten Leistungserbringung ist meist nicht erlaubt. Dieses Modell bietet für die Wohlfahrtseinrichtungen ein hohes Maß an Planungs- und finanzieller Sicherheit. Beide Aspekte wirken jedoch innovationshemmend.
Erschwerend kommt hinzu, dass unser aktuelles System so gut wie keine Anreize für Innovationsentwicklung bietet. Weder hat die Suche nach neuen technologischen Möglichkeiten Sinn, noch werden Mitarbeiter*innen dazu angehalten, zu einer strukturellen Verbesserung der Leistungserbringung beizutragen. Dies wirkt sich negativ auf die Innovationskultur in den Einrichtungen aus. Hier sind Politik und Verwaltung ebenfalls gefordert, Spielräume zu öffnen, die über kurzfristige Modellprojekte hinaus wirken können.
Andererseits fehlt es dem Großteil der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege an Strukturen, Instrumenten und Expertise, um disruptive Innovationen zu entwickeln oder neue Infrastrukturen aufzubauen. Ein aktives Innovationsmanagement ist in vielen Wohlfahrtseinrichtungen leider noch nicht vorhanden.
Kooperationen über Branchengrenzen hinaus
Die trägerübergreifenden Vernetzungen mit dem Ziel der Skalierung und Verbreitung von Innovationen sind zumeist schwach ausgeprägt. Gleichzeitig werden externe Potenziale wie zum Beispiel durch cross-sektoralen Austausch und Kooperationen mit Startups oder etablierten Unternehmen noch unzureichend genutzt.
Diesen Zustand muss die Wohlfahrt auflösen! Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Angebote der Wohlfahrt mittelfristig von privaten Anbietern übernommen werden, wenn diese schneller auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren.
Es gibt bereits gute Ansätze, wie die Entwicklung von Innovationslaboren. Hier sei unter anderem das Projekt „Innovation²“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Social Impact gGmbH benannt. Die Initiative „Lab of the Labs“ und die Zusammenarbeit vieler Wohlfahrtseinrichtungen mit der Social Impact gGmbH zur Förderung von sozialen Innovationen können schon jetzt wichtige Impulse geben.
Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege sind auf Basis ihrer Erfahrungen, ihres Wissens und ihrer Verzahnung in die Sozialräume hinein die präferierten Organisationen, um innovative Lösungen für die immer differenzierter werdenden Problemlagen zu finden. Sie können die größer werdenden Versorgungslücken schließen – aber dafür müssen sie sich selbst innovieren.
Der Autor: Norbert Kunz ist Geschäftsführer der Social Impact gGmbH und gehört zu den profiliertesten Sozialunternehmern in Deutschland. Seit über zwanzig Jahren berät und unterstützt er Existenzgründer*innen und hat als Mitbegründer verschiedener Organisationen maßgeblich an der Entwicklung sozialer Innovationen mitgewirkt.
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 1.2019 unseres Verbandsmagazins anspiel.