In den letzten Jahren ist die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen alarmierend angestiegen. Neben Depressionen nehmen auch Ess- und Angststörungen stark zu. Die Versorgungslandschaft in Sachsen ist jedoch unzureichend.
Bis zu 13 Monaten Wartezeit für psychotherapeutische Hilfe
Das derzeitige Versorgungsniveau mit kinder- und jugendpsychiatrischen Angeboten reicht nicht aus, um den steigenden Bedarf zu decken. Zeitnahe Termine bei Fachärzt*innen zu bekommen, ist fast unmöglich. Untersuchungen der Universität Leipzig zufolge müssen Kinder und Jugendliche in Sachsen im Durchschnitt mindestens sechs Monate auf den Beginn einer Therapie warten. Im Landkreis Görlitz wird auch von Wartezeiten von bis zu 13 Monaten berichtet. Patient*innen, die dringend Hilfe benötigen, bleiben somit ohne adäquate Unterstützung. Dies kann zu anhaltenden Selbstverletzungen, Depressionen und sogar Suiziden führen. Letzteres ist die häufigste Todesursache bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Derzeitige Bedarfsplanung erfasst tatsächliche Bedarfslage nicht
Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe des Zittauer Kinderschutzbundes kennen aus der täglichen Praxis die Probleme, die sich für die Betroffenen und ihre Familien ergeben. Immer wieder müssen sie erleben, dass junge Menschen psychotherapeutische Unterstützung nicht zeitnah erhalten. Praxen und Kliniken müssen die Hilfesuchenden aufgrund mangelnder Kapazitäten abweisen oder sie auf lange Wartelisten setzen.
Das Team um Katja Schönborn, Geschäftsführerin des Kinderschutzbund Ortsverband Zittau e.V., weiß, dass einige der Betroffenen für eine Psychotherapie wöchentlich lange Wegstrecken in Kauf nehmen, da es vor Ort keine freien Kapazitäten gibt. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien ist diese Belastung kaum zu bewältigen. Viele junge Menschen und ihre Familien schaffen es nicht und bleiben daher unversorgt. Das Team des Kinderschutzbundes erlebt die Tatsache, dass junge Menschen zeitnah keine adäquate Hilfe bekommen, als „kollektive Ohnmacht“.
Die veraltete Bedarfsplanung sei Auslöser des Problems, stellt Katja Schönborn fest. Die Berechnungsgrundlage wurde Ende der 1990er Jahre erstellt und regelt bis heute die Zahl der niedergelassenen Psychotherapeut*innen, die gesetzlich Versicherte behandeln können. Daher seien zum Beispiel die Therapiemöglichkeiten im Landkreis Görlitz nicht ausreichend. Laut Kassenärztlicher Vereinigung in Sachsen, die für die Planstellen von Haus- und Fachärzt*innen sowie die Vergabe der sogenannten Vertragspsychotherapeutensitze im Freistaat zuständig ist, sei der Raum Löbau-Zittau auf dem Papier ausreichend versorgt. In der Praxis träfe dies jedoch nicht zu, so die Kritik des Zittauer Kinderschutzbundes. Grundproblem der Bemessung sei, dass sich diese ausschließlich auf die Einwohnerzahl einer Region beziehe, die tatsächliche Zahl der Erkrankungen jedoch ausblende. Auch die in den letzten Jahren vorgenommene Fortschreibung fuße nicht auf realen Zahlen.
Bedarfsplanung blendet aktuelle Entwicklungen aus
Diese Feststellung findet sich ebenfalls in einem Positionspapier der Psychologie-Fachschaften-Konferenz zum Thema Therapieplatzknappheit aus dem Jahr 2022. Das Papier führt aus, dass die vorgenommenen Fortschreibungen der Bedarfsplanung die tiefgreifenden Veränderungen wie beispielsweise die Entstigmatisierung psychischer Störungen sowie ein verändertes Verhalten bei der Inanspruchnahme in der Bevölkerung nicht ausreichend berücksichtige. Auch gesamtgesellschaftliche Belastungen wie die Covid-19-Pandemie fanden keinen Eingang in die Planung. Damit komme es trotz leichter Anpassungen der Kassensitze zu einer zunehmenden psychotherapeutischen Unterversorgung.
Verschärfend kommt hinzu, dass selbst die Kassenärztliche Vereinigung nicht hinreichend steuern kann, wo sich Psychotherapeut*innen mit dem neu erworbenen Kassensitz niederlassen. Ein Trend zur mehr Teilzeit in dieser Berufsgruppe steht zudem im Widerspruch zu der auf Vollzeitäquivalenten beruhenden Planung, stellt der Kinderschutzbund Zittau fest.
Kinderschutzbund Zittau startet Petition zur Anpassung der Therapieplatzvergabe
Um auf dieses dramatische Versorgungsdefizit aufmerksam zu machen, startete der Kinderschutzbund Zittau eine Petition mit dem Titel "Kinder und Jugendliche brauchen ausreichend Psychotherapieplätze!" Darin wird eine Anpassung der Kassensitze für Psychotherapeut*innen sowie der Kapazitäten in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken an den reellen Bedarf vor Ort gefordert. Die Unterschriftensammlung läuft noch mehrere Monate. Wenn das Quorum erreicht ist, soll die Petition dem Petitionsausschuss des Sächsischen Landtags überreicht werden.
Unterstützt werden kann diese Petition unter folgendem Link: www.kinderschutzbund-zittau.de/ausreichend-therapieplaetze
Landesstelle für Gemeindepsychiatrie soll Versorgungsstrukturen stärken
Doreen Voigt, Referentin für Sucht und Sozialpsychiatrie des Paritätischen Sachsen, bestätigt, dass die sächsische Versorgungslandschaft für psychisch erkrankte Menschen generell große Lücken aufweist. Insbesondere in ländlich geprägten Regionen sind die Engpässe sichtbar. Gleichzeitig fehlen valide Daten zur Versorgungslandschaft.
„Als Lösung schlagen wir eine zentrale Fachstelle für Gemeindepsychiatrie in Sachsen vor. Mit dieser könnten Datenerfassung und Bedarfsplanung auf eine verlässliche Basis gestellt werden. Versorgungslücken würden so frühzeitig aufgedeckt und rechtzeitiges Handeln wäre möglich. Zudem könnte die Fachstelle den Informationsaustausch zwischen den regionalen Akteuren verbessern, um bereits bestehende Strukturen zu stärken“, erklärt Doreen Voigt.
Der Vorschlag für eine Landesfachstelle für Gemeindepsychiatrie ist eine von 11 Sozial- und bildungspolitischen Lösungen, die der Verband mit Blick auf die Landtagswahl 2024 erarbeitet hat. Details dazu und zu weiteren Lösungsvorschlägen lesen Sie auf der Themenseite zur Landtagswahl 2024.