Wenn Partner*innen oder Familienmitglieder ernsthaft chronisch erkranken, geraten Paare oder ganze Familiensysteme nicht selten in schmerzhafte und herausfordernde Wendepunktsituationen. Genau wie die von Krankheit Betroffenen brauchen auch die Angehörigen in dieser Situation respektvolle und warmherzige Unterstützung. Dozent Klaus Vogelsänger berichtet über die Chancen von Angehörigen-Selbsthilfegruppen.
Innerhalb einer Angehörigen-Selbsthilfegruppe können die Teilnehmenden endlich offen über alles sprechen. Sie spüren deren bereicherndes und heilendes Potential. Die Zugänge sind dabei sehr verschieden.
„Ehrlich gesagt, der bekommt von mir nur noch sein Gnadenbrot.“
Dies sagte während eines Seminars für Angehörige eine Frau, deren Mann seit einiger Zeit an einer chronischen und nicht heilbaren Erkrankung leidet. Als Seminarleiter hätte ich empört sein können über solch eine herzlose Haltung. Schließlich war diese Frau seit vielen Jahren mit ihrem Mann verheiratet – und dann so eine harte, wütende, verzweifelte innere Stimme. Nach einer ersten kurzen Irritation, die ich mit anderen in der Seminargruppe teilte, wurde mir schnell bewusst, dass auch das eine Realität von Angehörigen chronisch Erkrankter sein kann.
Selbsthilfegruppen für Angehörige bieten die Möglichkeit, auch solchen Realitäten schonungslos ins Auge zu blicken – ohne so tun zu müssen, wie es unsere Kultur von Angehörigen chronisch kranker Menschen erwartet: immer hilfsbereit und in aufopferungsvoller Hingabe und Liebe für das Gegenüber da zu sein.
Um diese weniger akzeptierten Gefühlen ausdrücken zu können, bedarf es geschützter und wirklich offener Räume. Räume, in denen keine Vorverurteilung stattfindet. Nur so können sich Menschen der eigenen Lage wirklich bewusst werden und aus diesem Bewusstsein heraus neue Wege für die Beziehung und das Familienleben entwickeln. Räume, in denen Not, Schmerz, Wut und die Ängste willkommen und respektiert sind. Alle Gefühle, alle Bilder und Gedanken verdienen Anerkennung und haben ihre Daseinsberechtigung.
Klar, herzlich und ehrlich
Spätestens in dieser kleinen explosiven und intensiven Situation wurde mir der Sinn, Zweck und Segen von Angehörigen-Selbsthilfegruppen deutlich – klar, herzlich und ehrlich! Denn Angehörige sind ebenso betroffen wie die Betroffenen selbst, lediglich ihr Blickwinkel ist ein anderer.
In Seminaren für Angehörige erlebe ich immer wieder, dass Paare, die ihre Beziehung nicht in respekt- und liebevoller Weise gelebt haben, durch die chronische Erkrankung der oder des anderen in einen schmerzhaften Strudel geraten können. Bis zu diesem Wendepunkt waren beide noch auf Augenhöhe. Die Beziehung war möglicherweise nicht besonderes harmonisch, aber immerhin hatten beide die Ressource der individuellen Autonomie zur Verfügung – egal, ob diese jemals genutzt wurde.
Aber nun ist alles anders. Plötzlich ist der (un)geliebte Partner nicht mehr so autonom. Die andere Person braucht Unterstützung, weil sie in eine verunsichernde, schmerzhafte und traumatische Notsituation geraten ist. Die persönliche Welt wird enger, die körperlichen und psychischen Ressourcen schrumpfen – es herrscht Alarmstimmung, sowohl ganz individuell als auch in der Paarbeziehung und innerhalb des gesamten Familiensystems. Was soll ein Paar nun tun, wenn es über lange Phasen versäumt hat, in gegenseitiger Wertschätzung miteinander in Beziehung und Kommunikation zu sein? Wo kann da auf einmal liebevolle Begleitung und Hilfe herkommen?
Sich um sich selbst kümmern
Es scheint nicht so einfach zu sein, speziell als Angehörige, gut für sich selbst zu sorgen. Meist steht der erkrankte Mensch im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es braucht in unserer Kultur somit gehörig Selbstbewusstsein, damit pflegende Angehörige auch für sich selbst sorgen können. Damit neben dem Engagement für das Familienmitglied genügend Zeit für sich selbst bleibt.
Angehörige benötigen unabdingbar Zeit für Dinge, die Spaß machen, um zu regenerieren. Sie brauchen Mut, sich für eigene Pläne Zeit zu nehmen und konkret nach Entlastungsangeboten Ausschau zu halten, welche die nötigen Freiräume ermöglichen. Und das bedeutet häufig auch intensive Gespräche mit dem erkrankten Menschen, der nachvollziehen muss, warum dies für die Angehörigen lebenswichtig ist. Es geht auf beiden Seiten um das körperliche und seelische Wohl, um die Erhaltung und Förderung der Gesundheit.
Sicherlich ist all dies vielen Angehörigen theoretisch – „eigentlich“ – klar, aber die gewohnte Blickrichtung auf die hilfebedürftige Person ist sehr stark.
Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass sich Angehörigen-Gruppen immer wieder bewusst machen, was der eigentliche Sinn der Gruppe ist: Wie man sich gemeinsam darin unterstützen kann, auf eine gesunde und selbstverständliche Art Sorge für sich selbst zu tragen, damit auch die Anforderungen des Angehörigenlebens gut gemeistert werden. Dies kann für viele Menschen ein hartes Stück Arbeit sein, weil die meisten damit unbekanntes Terrain betreten. Es kann jedoch auch Spaß machen und versiegte Lebensenergie neu beleben.
Der Autor Klaus Vogelsänger ist Diplom-Sozialpädagoge und renommierter Dozent im Selbsthilfebereich. Er bietet Team-, Institutions- und Gruppenberatung sowie Theaterpädagogik an.
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe September 2021 unseres Verbandsmagazins anspiel. mit dem Themenschwerpunkt Kooperation. Jetzt einen Blick ins Heft werfen!