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Tagestrukturangebote am Bedarf ausrichten und Teilhabe ermöglichen

Duygu Özen sitzt im Rollstuhl und hat Lern-Schwierigkeiten. Ihre Schulzeit hat sie in einer Förderschule zunächst für körperbehinderte dann für geistig behinderte Menschen verbracht. Das war wenig fordernd. Ihr fehlten Menschen auf ihrem Niveau, mit denen sie sich austauschen konnte. Aufgrund dessen zog sie sich immer mehr zurück.   Nach dem Ende ihrer Schulzeit wollte Duygu Özen deshalb unbedingt inklusiv auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Sie möchte sich dieser Herausforderung stellen. Denn Duygu Özen und alle Unterstützer*innen glauben fest, dass in ihr viel Potential steckt. Doch dafür braucht sie Assistenz, einen Fahrdienst, eine Person die ihr und dem Betrieb zur Seite steht und etwas Unterricht in Mathe und Deutsch, um sich stetig zu verbessern.  Doch die Agentur für Arbeit Berlin Nord sagt: Duygu Özen muss in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) eine Ausbildung machen. Erst dann darf sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. So steht es in derem medizinischen und psychologischen Gutachten. Alles andere bezahlen sie nicht.   ++ am 14.02.2019 in Berlin (Berlin).  (c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Wie die Eingliederungshilfe den Bedarfen von Menschen mit Behinderungen in Sachsen gerecht werden kann, damit befasst sich die Kommission nach SGB IX. In der aktuellen Diskussion werden jedoch Stimmen laut, die Schulungs- und Fördergruppen den Vorrang vor tagestrukturierenden Angeboten geben wollen. Warum dieser Ansatz an den Bedarfen der Nutzer*innen vorbeigeht, erläutert Anne Cellar, Referentin für Teilhabe.

Tagesstruktur versus Schulungs- und Fördergruppen?

Aktuell wird in der Kommission kontrovers über die Zukunft der Tagesstrukturangebote diskutiert. Einige Stimmen argumentieren, dass Schulungs- und Fördergruppen stärker in den Mittelpunkt rücken sollten, da sie Menschen mit Behinderung auf den Arbeitsmarkt oder ein eigenständiges Leben vorbereiten. Dieser Ansatz zielt auf eine verbesserte Integration in die Berufswelt ab. Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass ein erheblicher Teil der Menschen mit Behinderung nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage ist, an solchen Programmen teilzunehmen. Für sie sind tagesstrukturierende Maßnahmen unverzichtbar.

Die Notwendigkeit selbst gewählter, flexibler Tagesstrukturangebote kommt in der aktuellen Diskussion oft zu kurz. Derzeit dominieren in Sachsen meist einrichtungsgebundene Tagesstrukturen, die häufig an Wohneinrichtungen oder Werkstätten für behinderte Menschen geknüpft sind. Sie erfüllen zwar eine wichtige Funktion, reichen aber bei weitem nicht aus, um den wachsenden und sich wandelnden Anforderungen gerecht zu werden.

Die zunehmende Individualisierung und Ambulantisierung der Betreuung von Menschen mit Behinderung erfordert den Ausbau neuer, wohnortnaher Tagesstrukturangebote. Angebote in Nachbarschaftszentren oder Gemeindeeinrichtungen schaffen dabei nicht nur mehr Flexibilität, sondern fördern auch die Inklusion in das soziale Umfeld. Dafür müssen jedoch alle Formate ausreichend finanziell unterstützt werden. Ohne eine solide Refinanzierung bleibt dieses Potenzial ungenutzt und passende Angebote fehlen.

Flexible und selbstgewählte Tagesstrukturangebote stärken

Diese flexiblen und selbst gewählten Tagesstrukturangebote sind besonders für jene Menschen mit Behinderung essenziell, die keine Möglichkeit haben, an arbeitsmarkt- oder schulungsorientierten Maßnahmen teilzunehmen. Und insbesondere hier haben wir erheblichen Mehrbedarf in den nächsten Jahren.

Viele Menschen mit Behinderungen kommen jetzt ins Rentenalter und brauchen in ihrem Lebensabschnitt nach der Werkstatt begleitende Angebote. Ebenso werden die Eltern behinderter Kinder älter. Für deren erwachsenen Kinder spielen tagestrukturierende Angebote künftig ebenso eine größere Rolle. Zudem muss die bisher unzureichend entwickelte Angebotslandschaft für Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgebaut werden.

Bei all diesen Personenkreisen trägt die Tagesstrukturierung mit einem geregelten Tagesablauf und sinnvollen, individuell angepassten Aktivitäten maßgeblich zur emotionalen Stabilität sowie zur sozialen Teilhabe bei. Studien zeigen, dass tagesstrukturierende Maßnahmen dabei helfen, Depressionen und Angstzustände zu reduzieren – Probleme, die bei Menschen mit Behinderung besonders häufig auftreten, wenn keine adäquaten Angebote vorhanden sind. Die Tagesstrukturangebote unabhängig von stationären Einrichtungen auszubauen, wäre ein wichtiger Schritt zur Abhilfe. Flexible Angebote, die den Menschen nahe ihrem Wohnort soziale Kontakte und eine geregelte Tagesgestaltung bieten, sind entscheidend, um sowohl ihre psychische Gesundheit als auch ihre soziale Teilhabe zu sichern.

Schulungsorientierte Maßnahmen können das in dieser Form nicht leisten, denn sie setzen ein gewisses Maß an Lern- und Leistungsfähigkeit voraus. Dieses ist nicht bei allen Menschen gegeben. Daher dürfen wir nicht den Fehler machen, alle in ein solches Schema pressen zu wollen. Tun wir es dennoch, bestünde bei den Betroffenen die Gefahr der Überforderung oder schlimmstenfalls stellt sich das Gefühl des permanenten Scheiterns ein. Die psychische Belastung für die Betroffenen stiege und letztlich kann ihre soziale Isolation so noch verstärkt werden. Ein reines Schulungssystem kann den individuellen Bedürfnissen dieser Menschen nicht gerecht werden.

Einen integrativen Ansatz für die Eingliederungshilfe umsetzen

Eine ausgewogene Angebotslandschaft ist entscheidend, denn die alltagspraktische Förderung steht im Zentrum des Handelns. Während Schulungsgruppen auf die Entwicklung spezifischer beruflicher Kompetenzen abzielen, fördern Tagesstrukturangebote essenzielle Alltagsfähigkeiten wie Selbstversorgung und soziale Interaktion. Es braucht also beides.

Außerdem ist ein Bekenntnis zur Refinanzierung der Eingliederungshilfeangebote auch in Zeiten schwieriger Haushaltslagen essenziell, damit diese flexibel und wohnortnah verfügbar sind. Denn nur ein ganzheitlicher Ansatz, der die Vielfalt der Bedürfnisse berücksichtigt, kann sicherstellen, dass alle Menschen mit Behinderung die Unterstützung erhalten, die sie für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben brauchen.


Kontakt:

Anne Cellar (Referat Teilhabe)
Tel.: 0351 - 828 71 150
E-Mail: anne.cellar(at)parisax.de