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Teilhabe am Arbeitsleben: Berufsbildung in Werkstätten neu gedacht

Zwei Beschäftigte der Werkstatt für Menschen mit Behinderung des Lebenshilfewerkes Annaberg schieben einen Wagen mit elektrischen Bauteilen. Dabei lächeln sie freundlich in die Kamera. (Paritätischer Sachsen)

Für gute Bildung muss sich auch das Bildungssystem weiterentwickeln. Das Lebenshilfewerk Annaberg e.V. setzt bei der beruflichen Ausbildung in seinen Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) auf das Modell der Praxisbausteine. Diese Entscheidung stärkt nicht nur die Chancen der Werkstattbeschäftigten. Auch für die Einrichtungen selbst eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten.

Freundlich und offen wirkt die WfbM des Lebenshilfewerks in der Annaberger Damaschkestraße. Im großzügigen Eingangsbereich der Einrichtung sind gerade viele Nutzerinnen und Nutzer unterwegs. Es ist Pause. Hier hört jemand Musik, dort unterhält man sich, die Stimmung ist locker und gelöst. Die Angebotsvielfalt bietet jedem der 345 Beschäftigten eine passende Aufgabe. Das war der Werkstatt jedoch zu wenig, weshalb man im Berufsbildungsbereich seit Januar 2016 mit dem Modell Praxisbausteine einen neuen Weg beschreitet. Die Praxisbausteine basieren auf Ausbildungsrahmenplänen von Berufen des ersten Arbeitsmarktes. Im Rahmen eines Projektes der Diakonie wurden die wesentlichen Inhalte herausgearbeitet und in einzelne Module aufgeteilt, die nun sachsenweit von derzeit sieben WfbM umgesetzt werden.

Praxisbausteine bieten einheitlichen Rahmen für berufliche Bildung in Werkstätten

Werkstattleiter Steffen Helbig ist überzeugt: „Die Praxisbausteine sind ein Meilenstein für die berufliche Ausbildung in Werkstätten. Damit gibt es erstmals einen einheitlichen Rahmen für die berufliche Bildung in WfbM.“ Bisher entwickelte jede Einrichtung die Ausbildungsinhalte selber und setzte diese um. Neben der unterschiedlichen Ausbildungsqualität zwischen den jeweiligen WfbM waren die erworbenen Abschlüsse auf dem ersten Arbeitsmarkt wenig akzeptiert.  Die Praxisbausteine besitzen diesbezüglich ein höheres Niveau, denn die Module sind durch die Handwerkskammer und die Industrie- und Handelskammer zertifiziert. „Der Erwerb eines derartig zertifizierten Abschlusses war vorher für Werkstattbeschäftigte so gar nicht möglich. Langfristig wollen wir damit die Akzeptanz bei den Betrieben der Region steigern, Menschen mit Behinderungen im eigenen Unternehmen zu beschäftigen“, beschreibt der Werkstattleiter ein wichtiges Ziel.

Als Steffen Helbig das erste Mal von dem Modell hörte, war ihm schnell klar, dass darin die Zukunft der beruflichen Bildung im Werkstattbereich liegt. Die Herausforderung dabei: Sich dem damit verbundenen Qualitätsanspruch stellen. Kein leichtes Unterfangen, denn die Praxisbausteine hinterfragen das bisherige Handeln gründlich. Zu den inhaltlich organisatorischen Veränderungen innerhalb der Werkstatt kamen neue Anforderungen an die Qualifikationen des Personals. Neue Fachkräfte mussten eingestellt werden, um die Ausbildungsinhalte überhaupt vermitteln zu können.

Berufsbildung neu aufstellen - Ein Wandel für Beschäftigte und Personal

Eines ist für den Werkstattleiter entscheidend: „Hier geht es um Haltung. Alle müssen dahinter stehen, ansonsten ist es nicht machbar.“ Er erinnert sich an viele Diskussionen mit dem Vorstand und den Mitarbeitenden, die letztendlich mit der weitgehenden Zustimmung aller Beteiligten endeten. Die anfängliche Skepsis ist nach nunmehr einem Jahr Laufzeit der Begeisterung dafür gewichen, Neues zu wagen und den Werkstattbeschäftigten Chancen zu eröffnen.

Berufliche Bildung in der Werkstatt war bisher stark von jenen Schwerpunkten geprägt, welche die jeweilige Gruppenleitung setzte. Oft ging es um lebenspraktische Aspekte. Diese spielen weiterhin eine Rolle, haben aber eher ergänzenden Charakter. Einen zweiten Schwerpunkt bildeten die Bedarfe der WfbM selbst. Ausgebildet oder vorbereitet wurde auf jene Tätigkeiten, die innerhalb des Werkstattbetriebes benötigt wurden. Stefanie Groß, Teamleiterin im Berufsbildungsbereich, sagt selbstkritisch: „Dass wir direkt für den ersten Arbeitsmarkt ausbilden, stand meist nicht im Vordergrund. Auch die Tiefe und der Anspruch an die Ausbildung waren nur bedingt gegeben. Der Wille im Team, dies zu leisten, war aber schon immer vorhanden. Mit den Praxisbausteinen haben wir nun ein Instrument, mit dem wir dem Anspruch besserer Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt näher kommen und gleichzeitig dem gesetzlichen Auftrag gerechter werden.“

Die Praxisbausteine sind ein relativ neues Modell und über die tatsächlichen Vermittlungserfolge auf den ersten Arbeitsmarkt kann derzeit noch nichts gesagt werden. In der Werkstattlandschaft wird darüber viel diskutiert. Kritiker befürchten, dass langfristig nur noch schwerstbehinderte Menschen in den WfbM verbleiben. Infolge dessen wären bisher gekannte Produktionsprozesse gefährdet und eine Finanzierung aus eigenen Erträgen sei dann fraglich.

Auch in den WfbM des Lebenshilfewerkes Annaberg wurden diese Befürchtungen besprochen. Würde man sich damit langfristig selbst abschaffen? Steffen Helbig versteht die Sichtweise, teilt sie aber nicht: „Wir haben im Team darüber diskutiert und sehen diese Gefahr so nicht. Außerdem steht für uns der Auftrag im Vordergrund, Menschen mit Behinderungen in allen Belangen soweit fit zu machen, dass ein Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt gelingen kann. Bei einer bundesweiten Vermittlungsquote aus WfbM von 0,3 Prozent wird klar, dass wir daran dringend arbeiten müssen. Ich denke, WfbM sollten die Chance nutzen und diesen Prozess aktiv gestalten.“

Lesen Sie den gesamten Artikel in unserem Verbandsmagazin anspiel. 1/2017