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Viel Beifall und dann nichts? Sachsens Gesundheits- und Pflegesystem nach Corona

Screenshot Website SLpB Veranstaltungsreihe "Aus der Krise lernen?"


„Aus der Krise lernen?“, fragt derzeit eine Online-Veranstaltungsreihe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Am 25.6.2020 ist Michael Richter, Landesgeschäftsführer des Paritätischen Sachsen, dort zu Gast. Im Vorfeld sprach Peter Stawowy mit ihm.

Hat unser Gesundheits-/Sozialsystem die Prüfung Corona gut überstanden? 

M. Richter: Unser Sozialsystem hat seine Schwächen, ist aber grundsätzlich stabil. Die letzten Monate haben nur jene Stellen sichtbarer gemacht, die schon vorher Baustellen waren. Zu nennen sind hier beispielsweise die dünne Personaldecke in sozialen Berufen sowie bürokratische Hürden. Die Spaltung zwischen Arm und Reich gehört ebenfalls dazu.

Welche Schwächen wurden offenbar? Welche Stärken?

M. Richter: Menschen mit geringem Einkommen hat die Krise wieder am härtesten getroffen. Einmal mehr zeigt sich, dass beispielsweise der Hartz IV-Regelsatz zum Leben in Würde nicht reicht. Durch die zeitweise Schließung der Tafeln blieb bei vielen die Küche kalt. Kindern aus einkommensschwachen Familien fehlte nicht nur der Zugang zu Bildung, viele bekamen auch in Kita oder Schule die einzige warme Mahlzeit des Tages. Das mussten die Eltern nun aus dem Hartz IV-Satz zusätzlich berappen. Hier hat das System versagt. Das war aber schon vorher abzusehen.

Positiv ist festzuhalten, dass viele Ämter und auch die Mitarbeiter*innen der sozialen Verbände sehr engagiert versucht haben, mit hilfebedürftigen Menschen Kontakt zu halten und erreichbar zu sein. So konnte im Großen und Ganzen noch Schlimmeres vermieden werden.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? 

M. Richter: Wir alle wissen, dass Deutschland trotz aller Schwächen international gesehen gut dasteht. Unsere Sozialgesetzbücher und das Hilfesystem aus staatlichen Stellen und freien Trägern dahinter, die die Hilfen vor Ort anbieten, ist eine großartige Sache. Aber das ist eigentlich nicht relevant. Dem Kind in der sächsischen Sozialwohnung nutzt es nichts, wenn wir ihm sagen, dass es dem Gleichaltrigen in São Paulo noch schlechter geht. Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wo die Lücken in unserem eigenen System sind. Da müssen wir jetzt gemeinsam ran und Lösungen finden.

Welche Herausforderungen stehen uns jetzt bevor? Was sollte die Gesellschaft aus der Corona-Krise lernen, auch in Bezug auf das Sozialsystem?

M. Richter: Wem wurde in der Krise Applaus gespendet? Dem Krankenhauspersonal, den Altenpfleger*innen und Erzieher*innen. Wer bekommt jetzt trotz Millionendefiziten fette Boni? Das Konzernmanagement.

Unser Sozialsystem hat stabil die Krise überstanden, aber wenn wir auch den sozialen Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern wollen, braucht es mehr Gerechtigkeit. In der Entlohnung von Berufsgruppen, die uns wichtig sind, aber auch zwischen den Geschlechtern.

Wir haben in den letzten Wochen gesehen, wer den Laden eigentlich am Laufen hält. Es sind mehrheitlich die Frauen in den sozialen und Gesundheitsberufen.

Das bedeutet erstens, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Mehr Personal in die Pflege und die Kitas, damit die Beschäftigten mehr Zeit haben für die Menschen, um die sie sich sorgen. Zweitens müssen die Gehälter verbessert werden. Kurz: Eine Arbeit, die für uns „systemrelevant“ ist, sollte man bis zur Rente durchhalten können und danach sollte man von dieser Rente auch gut leben können. Das Gegenteil ist derzeit Realität.

Welche Hinweise haben Sie in Richtung Politik?

M. Richter: Als Sozialverband stehen wir im engen Kontakt mit Politik und Behörden. Die Gesprächskultur hat sich in den letzten Jahren spürbar verbessert. Die Bemühungen um Lösungen sind da, es geht voran. Luft nach oben – und da fasse ich mich an die eigene Nase – besteht hinsichtlich der Einbeziehung der Betroffenen. Haben Sie in den letzten Wochen in einer Talkshow zur Pflege auch nur einen Pflegebedürftigen gesehen? Ich auch nicht. Sprechen wir noch mehr mit den Menschen, statt über sie!

Außerdem besteht natürlich immer in einer Krise das Risiko, dass nun reflexartig zum Rotstift gegriffen wird. Dabei lehrt uns die Corona-Pandemie genau das Gegenteil: Durch engagierte Prävention, die persönlich und finanziell schmerzlich war, haben wir ungleich größeres menschliches Leid und wirtschaftliche Schäden verhindert. Dies sollte uns auch für die Zeit danach zur Richtschnur werden.

Wie bewerten Sie die Pflegeprämie - auch in Abgrenzung zu 9 Mrd. für die Lufthansa?

M. Richter: In der Pflege zu arbeiten, ist erfüllend, aber auch anstrengend. Die Prämie ist daher ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung. Ich freue mich für die Beschäftigten. Allerdings bleibt sie Stückwerk. Ich sagte es ja bereits: Die nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen muss das Ziel sein, nicht eine Einmalzahlung. Außerdem schauen Tausende weiterer Heldinnen und Helden der Krise ins Leere - denken Sie an die Beschäftigten in Kinderheimen, in den Kitas, in Arztpraxen, im Handwerk… Alles in allem eine fragwürdige Idee, die die Politik bitte nicht wiederholen sollte.

Mit der Summe für die Lufthansa möchte ich das nicht ins Verhältnis setzen. Das ist müßig. Auch hier hängen tausende Arbeitsplätze dran - beim Unternehmen, bei den Flughäfen, bei den Logistikunternehmen. Das sollte jemand beurteilen, der etwas davon versteht. Aber auch hier stellt sich dieselbe Frage: Wie können die Steuermittel so eingesetzt werden, dass sich damit auch gleich etwas nachhaltig für die Zukunft ändert? Das sollte die Maxime sein, nicht die Gießkanne.


Die Online-Veranstaltungs-Reihe "Aus der Krise lernen?" der SLpB lädt Expert*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein und diskutiert aktuelle Fragen. Michael Richter unterhält sich am 25. Juni 2020 ab 19 Uhr mit Tom Steinborn-Henke unter der Überschrift: Viel Beifall und dann nichts? Sachsens Gesundheits- und Pflegesystem nach Corona.

Sie können im Vorfeld Fragen stellen oder während der Veranstaltung bequem von zu Hause mitdiskutieren. Nähere Informationen lesen Sie unter: www.slpb.de/veranstaltungen/aus-der-krise-lernen

 

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