Mitzubestimmen und gehört zu werden, hat einerseits mit vorhandenen Rechten, aber andererseits mit tradierten Privilegien zu tun. Auch in der Sozialen Arbeit sind diese Muster zu erkennen. Anna Sabel, Leiterin des Projektes ‚Vaterzeit im Ramadan?!‘, und Özcan Karadeniz, Geschäftsführer des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig, werfen einen kritischen Blick auf die aktuelle Situation.
Wenn wir über gesellschaftliche Teilhabe nachdenken, kommt uns eine Metapher von Aladin El-Mafaalani in den Sinn. Er fragt: Warum sollte gesellschaftliches Zusammenleben durch ‘gelungene Integration‘ konfliktfreier werden? Sinnbildlich spricht er von Eingewanderten, die bereitwillig auf dem Boden Platz nehmen, während die meisten Anwesenden am Tisch sitzen. Die Kinder der Zugewanderten werden allerdings mit an dem Tisch sitzen wollen. Und ihre Kindeskinder werden sich dann bereits bei der Sitzordnung und der Bestellung zu Wort melden. Dadurch wird es nicht konfliktfreier. Im Gegenteil.
El-Mafaalani nutzt seine Metapher, um über ‘gelungene Integration‘ zu sprechen. Aber das Bild taugt auch, um generell darüber nachzudenken, warum gesellschaftliche Teilhabe so stark begrenzt ist. Um mitbestimmen und an Entscheidungsprozessen beteiligt sein zu können, braucht es zunächst die Möglichkeit, mit den eigenen Interessen und Anliegen gehört zu werden. Diese Möglichkeit haben nicht alle Menschen in gleicher Weise. Ungleichheitsstrukturen wirken sich in vielfältiger Hinsicht auf unser aller Leben aus.
Wir müssen nicht beim Thema Migration bleiben, um die Tischmetapher mit Inhalt zu füllen. Wenn es um die Sitzordnung und die Bestellung geht, haben Menschen unterschiedlich viel Einfluss. Erwachsene mehr als Kinder, Lehrende mehr als Schüler*innen etc. Selbstverständlich hat das Auswirkungen darauf, welches Essen serviert wird und wie groß mein Stück der Torte wird. Minderheitenschutz hin oder her.
Wenn Deine Ängste, Sorgen und Bedürfnisse zum Gegenstand ernsthafter gesellschaftlicher Auseinandersetzungsprozesse werden, dann weil Du privilegiert bist. Wenn Du Teil einer imaginierten bürgerlichen Norm bist, werden Deine Bedürfnisse und Vorstellungen zum Maßstab aller Dinge gemacht und den meisten Diskussionen enthoben. In einer Plakatkampagne der University of San Francisco heißt es: “If you don`t have to think about it, it`s a privilege.” Privileg wird auf dem Poster definiert als unverdienter Zugang zu sozialer Macht (social power) auf Grundlage der Zugehörigkeit zu einer dominanten sozialen Gruppe.
Unsere Geschäftsstelle berät seit Jahren Migrant*innen und arbeitet auch zum Thema (antimuslimischer) Rassismus. Das führt dazu, dass wir regelmäßig auf Podien eingeladen werden, um ‘migrantische‘ oder ‘muslimische‘ Positionen zu vertreten oder diesen Personenkreis zu erklären. Nicht nur viele unserer Klient*innen, auch viele Mitarbeiter*innen unserer Geschäftsstelle haben Migrationsgeschichte oder sind Muslim*innen. Die Anfragen scheinen daher gar nicht abwegig. Aber sie zeigen auch die Herausforderungen, die mit dem Wunsch nach Teilhabe und Mitbestimmung einhergehen. Mitbestimmung in größeren Bezügen scheint nicht anders als über Repräsentant*innen denkbar. Wir aber sprechen vielleicht - und sicher ungebeten - wahlweise für in Deutschland geborene, akademische, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzende, körperlich unversehrte,... Migrant*innen/ Muslim*innen.
Mitbestimmung bis zum Ende gedacht bedeutet, eine machtkritische Perspektive auf soziale Beziehungen und Sozialräume einzunehmen. Wieso kommt es uns so selbstverständlich vor, dass wir als Menschen mit hohem formalem Bildungsniveau auf den Podien sitzen? Auch dies ist ein Privileg. Wir müssen eingestehen, wie tiefgreifend Ungleichheiten in unsere Gesellschaft eingeschrieben sind. Sie prägen uns und unser professionelles Selbstverständnis.
Als Professionelle stilisieren wir uns nicht selten zu Expert*innen. Interessant ist, hineinzuspüren, wann wir uns in Gesprächen überlegen fühlen. Je jünger die Mutter ist, die uns gegenüber sitzt (oder je schlechter ihre Deutschkenntnisse oder je geringer ihr Einkommen), desto neunmalklüger vielleicht die Ratschläge, die sie von den Erzieher*innen unter uns in puncto Kindererziehung ungefragt erhält. Mit guter Absicht - zum Wohle des Kindes und verpackt in freundliche Worte. Was (moralisch) gut, richtig, was normal ist, wird nicht hinterfragt. Was wir in einer rassistisch, sexistisch, klassistisch, heteronormativ strukturierten Gesellschaft als gut, richtig zu empfinden gelernt haben, bleibt unhinterfragt normal.
Wir behaupten, an unserem Tisch sei Platz für alle und machen uns zugleich breit. Unser Denken, Fühlen und Handeln ist den Herrschaftsverhältnissen eben nicht vorgelagert. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten gehen uns nicht nur deshalb etwas an, weil wir Teil dieser Gesellschaft sind, sondern auch weil diese Ungerechtigkeiten Teil von uns selbst sind, sich durch uns ausdrücken und erhalten. Das klingt pessimistisch und es wird noch pessimistischer. Denn es gibt Grenzen in persönlichen Veränderungsprozessen einzelner, aber es gibt erst recht institutionelle Grenzen.
Der Philosoph Theodor W. Adorno sagt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Nehmen wir die Arbeit in sozialen Projekten als Beispiel. Was passiert, wenn sich einzelne mit ihren eigenen Privilegien auseinandersetzen, bereit sind, sich von anderen spiegeln zu lassen und die Überzeugungskraft eigener Überzeugungen zu kontextualisieren? Möglicherweise setzen diese Menschen Prozesse in Gang, die keinen Förderlogiken entsprechen. Möglicherweise lassen sie Prozesse entstehen, die hierarchische Organisationen in Frage stellen und personelle Besetzungen einer Kritik unterziehen. Möglicherweise wird das nicht zur Beliebtheit dieser Menschen beitragen.
Deshalb jetzt noch einmal ganz gemein: Vieles, was als Mitbestimmung verpackt daherkommt, ist wenig mehr als bloße Fassade. Manches was gut gemeint ist - ob in Integrationsprojekten, Sozialer Arbeit im Allgemeinen oder auch bei der Vorstellung von interkultureller Öffnung - verkommt zu einer Verbesonderung von Menschen anstatt Diversitätsbewusstsein und Diskriminierungskritik zu stärken. Mitbestimmung ermöglichen bedeutet, Macht abzugeben, auf Privilegien zu verzichten. Ein schwerer Schritt, der uns alle herausfordert. Aber langfristig für uns alle lohnend sein kann.
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 1.2018 des Verbandsmagazins anspiel.